Christoph Kivelitz

Die Macht der Dinge, Gesten und Zeichen: 'Just a little jump'

Patrick Borchers

in: Patrick Borchers – hingeschaut und umgebaut – zeichnung / video / installation

Sensationsverlag, Waldhausen, Österreich, 2009. Katalog zur Einzelausstellung Patrick Borchers, Im Eifer des Gefechts Block 1-6, Kunstverein Bochumer Kulturrat, 8.11. - 13.12. 2009. Kuratiert von Christoph Kivelitz.

DEN WEG ZU ENTSCHEIDUNGEN verändert und beschleunigt die neue, hyperkomplexe Geistmaschine radikal. So wie das altrömische Straßennetz mit seinen Wegweisern dem Apostel Paulus half, die Lehren und Bräuche der christlichen Kongregationen zu verbreiten und zu vereinheitlichen, geben elektronische Kommunikationssysteme nun vormals im Dunklen tappenden Gruppen Gemeinschaftsgefühl, Vertrauen und weltweite Unterstützung. Den Traum vom Fortschritt durch neue Technik wird aber nicht die Technik erfüllen. Die Entscheidungen treffen, wie wir auch gerade im Iran sehen, nach wie vor die Menschen - die Machthaber und jeder einzelne Demonstrant und jeder Polizist oder Prügelperser, der das entscheidende Gefühl wahrnimmt: Ist da noch Angst oder schon der nächste Antrieb? (Peter Glaser am 3. Juli 2009, in: Netzkolumnen und Essays, blog.stuttgarter-zeitung.de)

Dem Nachvollzug von "Wegen zu Entscheidungen" hat sich Patrick Borchers in seiner künstlerischen Arbeit verschrieben. Dabei weicht er selbst der eindeutigen Entscheidung für und Festlegung auf eine künstlerische Gattung aus, indem er sich in einem Spannungsbogen zwischen Medienkunst, Fotografie und Zeichnung bewegt. Sein zeichnerischer Stil lässt sich als linear charakterisieren, konzentriert er sich doch auf den zumeist exakten Nachvollzug der Umrisse der dargestellten Gegenstände und Figuren. In einem hohen Abstraktionsgrad wird die Vielfalt der visuellen Informationen ausschließlich auf klare Konturverläufe reduziert. Die Zeichnung steht – als "disegno" verstanden – in der kunsttheoretischen Auseinandersetzung dem Ausdruck einer Idee oder Vorstellung sehr viel näher als der abbildhaften Wiedergabe von Wirklichkeit, die der "pittura" anheim gestellt sei. Gleichwohl versteht Patrick Borchers sein künstlerisches Schaffen nicht als Gegenpol zum Realismus, vielmehr als Instrument, die Komplexität unserer Gegenwart zu durchdringen und diese in ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit anschaulich nachzuzeichnen.

Patrick Borchers verarbeitet in der Tages- und Wochenpresse sowie im Internet kursierende Bilder und Videos, die zunächst gesammelt, zu thematischen Blöcken geordnet und archiviert werden. Motive und Bildgefüge werden analysiert, neu strukturiert und in thematisch aufeinander bezogenen Werkgruppen zusammengefasst. Der Fokus seiner Wahrnehmung richtet sich auf gesellschaftlich und politisch relevante Probleme, die in den Medien kontrovers diskutiert und vielfach auch als Bedrohung der öffentlichen Ordnung, wenn nicht gar des gesellschaftlichen Systems empfunden werden. In besonderer Weise realisiert Patrick Borchers dieses Konzept in der raumgreifenden Installation "Just a little jump", in der er das Phänomen des Amoklaufs an Schulen befragt und untersucht. Die künstlerische Recherche geht von den selbst gefertigten Videos aus, die der Emsdettener Amokläufer Bastian Bosse, alias ResistantX bei www.youtube.com zur Ankündigung, Antizipation oder auch Vorbereitung seiner Tat online gestellt hat. Dieses Found-Footage-Filmmaterial hat Patrick Borchers zunächst per Screenshot vom Bildschirm abfotografiert bzw. in Sequenzen abgefilmt, um dann einzelne Details zu vergrößern, zu semiotischen Fragmenten zu verknappen, in neue Zusammenhänge zu bringen und teilweise linear nachzuzeichnen. In der großflächigen Wandinstallation "Just a little jump" werden die Medien Video, Fotografie und Zeichnung zusammengeführt und neu inszeniert. Durch Ausschnitte, Vergrößerungen, Unterstützung. Den Verschiebungen und Überblendungen wird die narrative Struktur des vorgefundenen Filmmaterials zerlegt, teilweise aufgehoben und neu interpretiert. Gleichzeitig werden die symbolischen, gestischen und formalen Grundlagen der Selbstinszenierung des Amokläufers transformiert und umgestaltet. Patrick Borchers geht es dabei nicht primär um die vermeintliche Authentizität der Selbstdarstellung. Durch die überlappende Verschränkung der Bildebenen schafft er ein komplexes semiotisches System, aus dem sich die subkulturellen Bedeutungen und Codierungen, die dem ikonischen Material bewusst oder unbewusst eingewoben sind, - mehrschichtig und polyvalent – ableiten lassen.

(...)


- Den vollständigen Text als PDF herunterladen

link Website von Patrick Borchers