Vortrag von Christoph Kivelitz mit Overheadprojektor-Folien, Bochumer Kulturrat e.V., 31. Oktober 2001.
Begleitprogramm zur Ausstellung Homa Emami – Rauminstallation, Bochumer Kulturrat e.V.
im Rahmen der ‚2. Anne Frank-Kulturwochen gegen Gewalt und Rassismus' (26. Oktober – 18. November 2001)
Die Installation Ich habe Anne Frank umgebracht von Felix Droese entstand im Jahr 1981 und war auf der documenta VII in Kassel erstmalig ausgestellt. Den Anlass lieferte der verantwortungslose Artikel in der Zeitschrift ‚Der Spiegel' vom 6. Oktober 1980 über die Ergänzungen, die im Tagebuch von Anne Frank mit "Blauer Paste" vorgenommen worden seien. Hieraus wurde die Schlussfolgerung gezogen, es müsse sich um eine Fälschung aus der Nachkriegszeit handeln. Das Zitat angeblich objektiver Forschungsergebnisse legte das Ende einer Legende nahe. Inzwischen sind die Zweifel an der Authentizität der Tagebücher durch eine beispielhafte Forschungsleistung der Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam [und des Anne Frank Fonds in Basel, Anmerkung von Myriam Thyes, Verwandte der Familie Frank] lückenlos ausgeräumt.
Die Installation kreist um das Thema der Auseinandersetzung mit unserem Verhältnis zur Verfolgung und Vernichtung von sechs Millionen Juden durch deutsche Nationalsozialisten. Felix Droese wirft hier noch einmal die von Alexander und Margarete Mitscherlich mit großer Eindringlichkeit formulierte Frage nach unserer Fähigkeit zu Trauern auf: "Die große Majorität der Deutschen erlebt heute die Periode der nationalsozialistischen Herrschaft retrospektiv wie die Dazwischenkunft einer Infektionskankheit in Kinderjahren, wenn auch die Regression, die man unter der Obhut des ‚Führers' kollektiv vollzogen hatte, zunächst lustvoll war – es war herrlich, ein Volk der Auserwählten zu sein. Dieser Glaube ist für sehr viele zwar nicht unerschüttert geblieben, aber auch nicht widerlegt."
Seit Beginn der 1980er Jahre wird die nationalsozialistische Ästhetik von den verschiedensten Ton- und Bildträgern rehabilitiert. Der von Hitler geschätzte Bildhauer Arno Breker feiert in Bildbänden und neurechten Broschüren, jüngst sogar in Ausstellungen, sein Come-Back. Die 1902 geborene Leni Riefenstahl, das Filmidol der Hitlerzeit, verursachte im Jahr 2000 ein letztes Mal mediales Interesse. Vor 400 Journalisten und Schaulustigen stellte sie bei der Frankfurter Buchmesse ihren Bildband ‚Leni Riefenstahl: Fünf Leben' vor. Bei der ‚Jungen Freiheit' steht sie in hohem Ansehen und hat dort selbst schon publiziert. Die ‚Deutsche Nationalzeitung' vertreibt über den ihr angeschlossenen Versand Riefenstahls Filme.
Gleichzeitig wird von einer neuen Künstlergeneration der Versuch unternommen, im Umgang mit dem Verdrängten und Vergessenen Sprechfähigkeit zurückzugewinnen, andere Motivationen und andere Redeweisen zu erproben. Neben Formen kritisch distanzierter Abrechnung treten Annäherungen, d.h. Versuche, Mythen und Ästhetiken, die der Faschismus seinen Zwecken dienlich machte, zurückzugewinnen, eine andere Nutzung anzustreben, um so das, was diesen Formen und Inhalten als potentiell faschistisch anhängt, von innen her aufzulösen. Hanne Darboven etwa begreift ihr künstlerisches Schaffen als Erinnerungsarbeit, der sie sich fast obsessiv in tagebuchartigen Notationen immer von neuem stellt.
Anselm Kiefer setzt in übergroßen Formaten auf die Durchmischung des Wissens mit Ahnung und Empfindung. Die Erfahrung von Geschichte findet ihre Erfüllung im subjektiven Nachvollzug, in der Identifikation mit Landschaft, mit historischen Orten, mit Namen. Und wenn eine monumentale NS-Architektur ihm großartig erscheint, so stellt er diese in ihrer faszinierenden, überwältigenden Wirkung dar, um sie dann zu entleeren, zu Staub zerfallen zu lassen, zur Ruine zu verbrennen und in ein ambivalentes Zeichen einer in unsere Gegenwart hineinragenden Zeit zu verwandeln.
Fünfzig Jahre nach dem Ereignis der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wird dieses Thema einer nachgeborenen Künstlerin [Hanne Darboven; Anmerkung Carsten Roth, Textredaktion], deren Erinnerung sich auf Erzählungen und Dokumente stützt. Die nicht einholbare Differenz zwischen diesen Überlieferungen und einem nachträglichen Wissen um das, was nicht gesagt wurde, eröffnet für sie eine Kluft, die sie in ihrem Schaffen vergegenwärtigen will. Ihre Fotoarbeiten wirken wie graphische Spiegel von Erinnerungsspuren, gleichsam als Spiegel des psychischen Apparates, in dem Bilder sich nicht linear, sondern ineinander verflochten ablagern. Hierüber stellt die Künstlerin die Differenz des Erinnerungsbildes zu einer abschließenden Geschichtsschreibung dar, um damit dem Schrecken Raum zu schaffen.
Die Debatten über die Echtheit des Anne-Frank-Tagebuchs standen im Zusammenhang eines sich neu formierenden Rechtsextremismus, der seit Anfang der 1980er Jahre wieder eine deutliche gesellschaftliche Präsenz gewinnt. Bei der Bundestagswahl am 28. September 1969 verfehlte die NPD mit immerhin 4,3 Prozent der Wählerstimmen nur knapp den Einzug in den Bundestag. Gegen die vom damaligen Bundeskanzler Willy Brand und Außenminister Walter Scheel durchgesetzte neue Ostpolitik bildete sich außerhalb des Parlaments auf breiter Front das von der NPD angeführte Spektrum neofaschistischer Gruppierungen als ‚Aktion Widerstand'. Es entstand die sogenannte ‚Neue Rechte', die – bei unveränderten Grundpositionen – neue, "moderne" Formen der Agitation wie Aktion entwickelte und bald darauf auch erprobte. Im Juli 1980 wurde beispielsweise in Kassel das ‚Thule-Seminar' gegründet. Das von Pierre Krebs initiierte Seminar sollte "eine Partei des Geistes, eine Schule der Metapolitik" sein. Es besteht eigenen Angaben zufolge in einem "aus unterschiedlichen Kreisen aufgebauten Konvent" und Teilnehmern an "grundlegenden Forschungsprojekten zu Fragen der indoeuropäischen Kultur". Es steht "in enger Zusammenarbeit mit allen Denkzirkeln in Europa, die sich für die ‚neue Kultur' einsetzen". Das Thule-Seminar nennt sich selbst einen "neuen Orden", der im kleinsten Kreis Weihestunden hält und einen eigenen Ehrenkodex hat, auf dem "künftig eine eigene Gerichtsbarkeit aufbauen [soll], die ganz klar zu trennen weiß, wer zu uns gehört und wer es noch nicht verdient, den Wodansknoten des ‚Thule-Seminars' zu tragen". An diesem Beispiel lässt sich zeigen, dass die Neue Rechte keine unmittelbaren Machtambitionen hat, sondern den Kampf um die Zukunft Europas intellektuell vorbereiten will. Erst in den letzten Jahren hat diese Entwicklung mit den nunmehr auch in politische Ämter vordringenden Neofaschisten in Italien, Österreich und jüngst gar in Hamburg eine veränderte Stoßrichtung genommen.
Thesen über "Lebens- und Umweltschutz", "soziale Sicherheit und Gerechtigkeit" oder "das Selbstbestimmungsrecht der Völker" klingen bei der 1983 verbotenen ‚Aktionsfront Nationaler Sozialisten / Nationale Aktivisten' (ANS/NA) oder der ‚Deutschen Volksunion' (DVU) unverhohlen revanchistisch und rassistisch. Über die Judenverfolgung und -vernichtung ist in der ‚Deutschen Nationalzeitung' regelmäßig von "Auschwitz-Lüge", von den "angedichteten Kriegsverbrechen der Waffen-SS", von der "unablässig negativen Beschäftigung der Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit" zu lesen. Michael Kühnen, häufig inhaftierter Anführer der zwar verbotenen, aber von anderen neofaschistischen Organisationen (Wiking-Jugend, FAP) aufgenommenen ANS/NA ließ 1982 als Esel vermummte Anhänger seiner "Kampfeinheit" mit dem Transparent "Ich Esel glaube noch, dass in deutschen KZs Juden vergast wurden" agitieren. Im Juli 1978 verteilte der Vorsitzende des rechtsextremen "Kampfbundes Deutscher Soldaten", Schönborn, vor der Anne-Frank-Schule in Frankfurt a.M. Pamphlete, auf denen das Tagebuch der Anne Frank als Fälschung und Produkt einer antideutschen, jüdischen Gruselpropaganda diffamiert wurde, geschrieben allein mit dem Ziel, die Lüge von der Vergasung von sechs Millionen Juden zu verbreiten.
Gleichzeitig erbringt der metapolitische Ansatz der Neuen Rechten erste Erfolge und erweist seinen Einfluss auf die öffentliche Meinung. Dies betrifft in erster Linie das Argument, dass jedes Volk das Recht auf Identität habe und Migration auf Völkermord hinauslaufe. Mit dem Heidelberger Manifest, in dem 1981 deutsche Professoren vor "Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums" und der "Unterwanderung des deutschen Volkes" durch Zuwanderer warnten, hat die Neue Rechte ihr entscheidendes Stichwort im Hinblick auf einen allgemeingesellschaftlichen Konsens abgegeben.
Die Beschäftigung mit der 1981 entstandenen Arbeit "Ich habe Anne Frank umgebracht" von Felix Droese muss von diesem politischen Kontext ausgehen. Der ärgerliche, weil verharmlosende und pauschalisierende Bericht über ein Gutachten des Bundeskriminalamtes, durch das (bei unvollständigem Zitieren) die Echtheit des Tagebuches der Anne Frank überhaupt in Zweifel gezogen werden konnte, war nur der oberflächliche Anlass zu dieser monumentalen Installation.
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