Die Sprache ist für den Menschen ein Element, das Identität stiftet und darüber soziale Bindungen in einer Gemeinschaft herstellt. Durch Sprache bringe ich meine Bedürfnisse, Gefühle und Erwartungen zum Ausdruck. So werden durch Sprache bei meinem Gegenüber auch Handlungen und Verhaltensweisen herbei geführt. In englischer Sprache bedeutet das Wort "tongues" nicht nur "Zungen", sondern eben auch Sprachen. Die Zunge ist ja das Instrument, das mich wesentlich zur Sprache und allem, was damit zusammen hängt, befähigt. Die Voraussetzung zur Verständigung ist dabei die Kenntnis der jeweiligen Sprache, des jeweiligen Codes, der wiederum auf Vereinbarung und Regeln beruht. Bei Kindern sind es daneben nicht-sprachliche, körperhafte oder mimische Zeichen, die Kommunikation erlauben. Bei Erwachsenen ist diese Art von Kommunikation weitestgehend verloren gegangen beziehungsweise ins Unterbewusste verschoben worden, entscheidet aber ganz wesentlich über Sympathie oder Abneigung.
Hlynur Hallsson geht in seiner bisherigen künstlerischen Arbeit von Gesprächssituationen aus. So führt er Interviews mit Menschen aus unterschiedlichen kulturellen, sozialen und religiösen Zusammenhängen. Durch Übersetzung der Aussagen in die Sprachen Englisch, Deutsch und Isländisch, in denen der Künstler sich selbst bewegt, führt er Verständnis herbei, um gleichzeitig zu veranschaulichen, dass durch die Übersetzung immer auch eine Mehr- oder Uneindeutigkeit zum Ausdruck kommt. Es erfolgt immer nur eine Annäherung an die in der Ausgangssprache formulierte Botschaft.
Der Künstler platziert seine Projekte weniger in dafür bestimmten Institutionen, als vielmehr in öffentlichen Räumen, Gebäuden oder Alltagssituationen. Auch hierdurch sprengt er den eng gesetzten Rahmen für die Vermittlung von zeitgenössischer Kunst. Er führt Situationen des Austausches und der Begegnung unterschiedlicher Wirklichkeiten und Systeme herbei. Dabei steht die Auseinandersetzung mit der Vorstellung von "Grenzen", so wie sie durch Denken und Sprache errichtet beziehungsweise dann auch verfochten werden, konzeptionell im Zentrum seiner Projekte. Der Künstler geht von der Erkenntnis aus, dass Bedeutung nicht unverrückbar gegeben ist. Sinnzusammenhänge existieren nicht losgelöst von Ort und Zeit. Sie rekonstruieren sich immer wieder neu in konkreten Akten des Sprechens und des Handelns jeweils abhängig von Kontext und Situation. An solchen elementaren Lebenserfahrungen und Zusammenhängen setzt Hallsson an.
Für das Projekt Tungur - Tongues - Zungen im Rahmen des Kooperationsprojekts GrenzGebietRuhr hat Hlynur Hallsson Recherchen vor Ort, in Bochum durchgeführt, um sich mit Menschen der Region mit verschiedenen soziokulturellen Hintergründen und kulturellen beziehungsweise religiösen Ursprüngen auseinanderzusetzen. Zu ganz banalen und alltäglichen Fragestellungen und Meinungen hat er in deutscher Sprache Befragungen durchgeführt, deren Ergebnisse dann in sechs kurzen Videoporträts umgesetzt wurden. Fünf dieser Porträts sind in öffentlichen Gebäuden im Bochumer Stadtraum zu betrachten. Alle sechs Porträts sind in den Ausstellungsräumen des Bochumer Kulturrats gemeinsam ausgestellt, verbunden mit Satzfragmenten aus den einzelnen Interviews, an den Wänden als Graffiti lesbar
Durch die sehr unterschiedlichen Porträts von Menschen, die einander nicht kennen und die doch in der Verbundenheit zu Bochum eine Gemeinsamkeit finden, vermittelt sich ein sehr vielschichtiges und mehrdimensionales Tableau dieser durch Zuwanderung und kulturelle Durchmischung geprägten und subjektiv erlebten Region. Das Spektrum reicht von der Sintezza Anja Atsch, die seit Jahren in Bochum auf einem hierfür notdürftig eingerichteten Gelände in einem Wohnwagen lebt, bis hin zu Fadi Adiz, der in Bochum-Gerthe erfolgreich einen eigenen Friseursalon führt. Anja Atsch steht für eine Minderheit, die in der Mehrheitsbevölkerung mit größtem Misstrauen betrachtet wird, und deren ursprünglich nomadische Lebensform sich kaum mit den Bedürfnissen einer zweckorientierten Leistungsgesellschaft koordinieren lässt. Die Unsicherheit der Artikulation und das wenig selbstsichere Auftreten verraten die Angst, sich öffentlich zu präsentieren und dadurch Ablehnung hervorzurufen. Fadi Adiz ist dagegen aramäischer Herkunft und damit in seinem Ursprungsland Türkei selbst einer religiösen Minderheit angehörig. In seiner neuen Heimat wird er folglich mit einem doppelten Missverstehen konfrontiert: Von deutscher Seite gibt es kaum Wissen über die aramäische Kultur, so dass er pauschalisierend als Muslim, da doch Türke betrachtet wird. Von Seite der türkischen Migranten stößt hingegen seine christliche Glaubenszugehörigkeit auf Ablehnung. Die Muttersprache des Tunesiers Guy Bitan ist Französisch. Sein rhetorisch gewandtes Auftreten und seine differenzierte Argumentation belegen den hohen Grad der Integration in das Ruhrgebiet als seine neue Heimat, der er durchaus auch mit Kritik gegenübertritt. Er selbst ist durch seinen Beruf als Musikschullehrer, insbesondere auch als Komponist zeitgenössischer Gitarrenliteratur zum aktiven und gestaltenden Bürger dieser Region geworden. Barbara Janko, die - selbst polnischer Herkunft, aber deutscher Nationalität – Bochum zu ihrer Wahlheimat erkoren hat, kann in ihrer Biografie zwar auf vielfältige Enttäuschungen und Probleme verweisen, sie vermittelt jedoch ein faszinierend positives und affirmatives Bild ihrer Stadt. Das eigene, durch soziale und kulturelle Konflikte geprägte Lebensumfeld im Bochumer Uni-Viertel erfährt sie als kreativen und sie persönlich anregenden Schmelztiegel vielfältiger Lebenswelten.
Der Künstler wählt die Bildgattung des Porträts, um die ausgewählten Personen zum Einen in ihrer individuellen Besonderheit darzustellen, sie zum Anderen in einen übergreifenden symbolischen Kontext einzubinden. Der gleichförmige Präsentationsrahmen, in dem die Videoporträts in den öffentlichen Gebäuden der Stadt Bochum (Stadtbücherei, Stadtwerke, Bürgerbüro, Zentrum für Stadtgeschichte, Sparkassenfiliale, Kunstverein Bochumer Kulturrat) aufgestellt sind, zitiert die Würdeformel des Repräsentationsporträts, um so deren jeweilige Lebensleistung als Menschen mit Migrationshintergrund - mehr oder weniger erfolgreich in die deutsche Gesellschaft integriert – zum Ausdruck zu bringen und ihnen gegenüber Respekt einzufordern. Hallsson regt dazu an, die Verhältnisse von Peripherie und Zentrum in einer sich unzeitgemäß und unangemessen gegen Zuwanderung abgrenzenden Gesellschaft zu hinterfragen und neu zu bestimmen. Das Projekt Tungur - Tongues - Zungen gibt solchermaßen dem Konzept einer multikulturellen Gesellschaft ein ganz persönliches Gesicht.