Christoph Kivelitz

Malte Lück - Lebliches

Katalog zur Ausstellung von Malte Lück im Dortmunder Kunstverein, Dortmund (Juni 2007) und im Kulturmagazin Lothringen / Bochumer Kulturrat, Bochum (Juni-Juli 2007). Kurator: Christoph Kivelitz.


10 Fragen eines Kurators. Dr. Christoph Kivelitz (C.K.) und Malte Lück (M.L.) im Dialog

C.K.: Der Begriff "lebliches" weckt bei mir unterschiedliche Assoziationen zwischen "Leib" und "leben", berührt aber auch die gegensätzliche Vorstellung von "sterblich". Damit eröffnet sich für mich die Idee eines uns in unserer Körperlichkeit umfassenden natürlichen Zyklus. Der Begriff steht in seiner Vieldeutigkeit und Mehrschichtigkeit für einen prozesshaften Verlauf, doch bezeichnet er gleichzeitig eine Zuständlichkeit, eine dem Lebendigen dauerhaft gegebene Eigenschaft. Wie verstehst du selbst diese Zusammenhänge?

M.L.: Es ist für unsere Kultur bezeichnend, dass wir so einen Begriff wie "lebliches" nicht haben. Wir wissen, was sterblich ist – etwas, das lebt und sterben kann. Wir wissen aber nicht, was beseelt werden kann und wie dieser Vorgang funktioniert. Gerade als Menschen sollten wir annehmen, dass wir leben – meist ist es jedoch so, dass das menschliche Potential in uns brach liegt. Der Begriff "lebliches" ist abgeleitet vom Wort "sterbliches" – und stellt die Frage in den Raum, was und wie Leben sein kann. "Lebliches" ist nicht zwingend an einen Körper gebunden – auch Ideen können diesen Prozess/Zustand einnehmen – den Schritt vom Nichts, zum Nicht sein, zum Entstehen, zum Leben. In der Antike war der Begriff "Leben" gleich bedeutend mit der Fähigkeit, sich selbst zu bewegen. Wie können wir also selbst "lebliches" schaffen? Eine sehr spannende Thematik, der ich Lösungsansätze geben will.

C.K.: In deinem Selbstverständnis als Künstler siehst du dich wesentlich durch das künstlerische Konzept von Joseph Beuys beeinflusst. Wie Beuys veranschaulichst du deine künstlerischen Projekte in Diagrammen und zeichenhaften Bildsystemen, die wie Lehrtafeln in deine Aktionen und deren Dokumentationen eingebunden werden. Inwieweit lässt sich daraus herleiten, dass dein künstlerischer Anspruch didaktisch ist?

M.L.: Wer ein Haus bauen will, fängt damit an, Ideen zu entwickeln, wie es sein könnte. Zeichnungen und Pläne entstehen, bevor der Komplex realisiert wird. Ähnlich verhält es sich mit den Kunstaktionen. Um auf das Didaktische zurückzukommen: Ich maße mir nicht an, irgendwen belehren zu wollen. Da ich mich selbst mit einer Materie befasse, die sehr stark gefühlsabhängig ist, kann ich nicht hingehen und anderen sagen, dies ist richtig oder falsch. Ich kann nur vermuten, dass das, was ich mache, stimmig sein könnte. Selbstverständlich können wir versuchen, unsere Welt, uns und andere besser zu verstehen – das hat immer etwas mit lernen zu tun – lernen von mir selbst und lernen von anderen. Das bedingt sich einander. Und Zeichnungen sind die ersten Ansätze, vielschichtige Strukturen zu veranschaulichen. Es ist einfacher, über Dinge, die wir sehen, zu sprechen. So können sich viele einbringen und sagen, was sie davon halten.

C.K.: Deine künstlerischen Projekte haben immer auch den Charakter einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung. Zum einen zielen sie auf die Erkundung soziologischer Verhaltensmuster, zum anderen wird das Publikum als Mitakteur in eine therapeutische Situation eingebunden. Wie siehst du in diesem Kontext deine Rolle als Künstler? Geht es dir um eine genesende, kathartische Wirkung, durchaus auch in einer Identifikation von Kunst und Medizin?

M.L.: Ich möchte mich selbst immer wieder aufs Neue herausfordern – mehr von mir erfahren. Das heißt auch, dass ich mich auf Situationen einlasse, die ich nicht direkt durchschauen kann und auch immer den Weg suche, der mich Überwindung kostet. Dieses Grenzüberschreiten – bedingt durch ein sehr starkes Freiheitsbedürfnis – und die Erfahrungen daraus spiegeln sich deutlich in den Aktionen und Werken wider. Andere Menschen scheinen diese Kraft zu spüren – das überträgt sich in die Aktionen. Ich habe festgestellt, dass Menschen, die schon einmal gescheitert sind, gerade in diesen Aktionen eine Art Hilfestellung, Kraftschöpfen finden. Das Scheitern ist ein wesentlicher Bestandteil in meinen Aktionen – ohne die Erfahrung, keinen Ausweg zu wissen, lässt sich die andere Seite kaum erschließen. In einer Kunstaktion kann ich den ersten Schritt zeigen, ein Potential sichtbar machen, was vorher vielleicht nicht angedacht oder erkannt wurde. Den nächsten Schritt muss der Betrachter dann selbst gehen und mit den Vorschlägen seine eigenen Erfahrungen machen. Ich kann zeigen, dass die Zusammenhänge für mich funktionieren und dass eine Verbesserung möglich ist. Es geht doch darum, etwas zu ermöglichen. Und wenn du für einen anderen Menschen etwas möglich machen kannst, ist das etwas Wunderbares. Viele sehen jedoch nur, was andere für sie möglich machen können.

C.K.: Eine Gegenfrage: In einer Zeit, in der eine Haltung der Skepsis gegenüber ganzheitlichen Heilsversprechen und missionarischem Eifer vorherrschend und zum Teil wohl auch angebracht ist, muss da nicht dein künstlerischer Anspruch als anmaßend oder doch zumindest provokant empfunden werden? Siehst du dich in dieser Hinsicht eher als Außenseiter im Kunstbetrieb?

M.L.: Wenn ich wohnen will, baue ich mir doch nicht nur ein Wohnzimmer – und vergesse Bad, Küche usw. Das Schaffen, die Idee greift in alle Bereiche hinein. Der Mensch hat jedoch die Welt, um sie besser verstehen zu können, aufgeteilt in Kategorien, damit die Sichtweise für ihn vereinfacht wurde. Wenn wir uns nicht üben, das Ganze denken zu wollen, können wir es natürlich auch nicht. Im Grunde jedoch fängt alles mit der Frage an: Wie will ich leben und was müsste sich dafür ändern? Dann: Was kann ich selbst ändern, was kann ich für andere ändern? So ist es ganz einfach, diesem Ziel näher zu kommen. Doch noch einmal zur Komplexität und wie wir sie verstehen: Wieso z.B. lesen wir ein Buch? Entweder, wir haben irgend etwas darüber erfahren, das uns neugierig macht, oder wir finden den Titel, das Buchcover interessant. Und dann fangen wir an, es zu lesen und verwenden viel Zeit mit dem Geschriebenen. Das Verständnis mit Ideen, die Substanz haben, ist ähnlich. Wir schnappen etwas auf, das uns interessieren könnte, und dann müssen wir sehr viel Zeit aufwenden, es wirklich zu verstehen und nachzufühlen! Es ist in meinem Schaffen ein ständiges Ausprobieren – was klappt, was klappt nicht, wie kann ich Dinge verbessern, vereinfachen, verständlicher machen. Sich selbst ständig in Frage stellen… Dem Kunstwerk wird jedoch wenig Zeit geschenkt – man meint, es beim Vorbeigehen im Museum begriffen zu haben. Natürlich kann ich auch durch eine Bibliothek gehen und danach behaupten, alle Bücher gesehen zu haben. Daraus jedoch zu schliessen, sie zu kennen…

C.K.: Deine künstlerischen Aktionen sind durch die Konzentration auf ritualisierte Handlungen, sowie auf den Raum, in dem diese stattfinden, gekennzeichnet. Diese Verdichtung hat zur Folge, dass Zuschauer bzw. Mitakteure aus dem gewohnten Zeitfluss herausgestellt werden. Ihnen bleibt nur die Entscheidung, sich durch Weggehen dieser Erfahrung zu entziehen oder aber sich vollständig auf diese Situation einzulassen. Wie würdest du die Reaktionen deines Publikums zwischen Akzeptanz und Ablehnung beschreiben?

M.L.: In den Reaktionen gibt es meist nur Zustimmung oder Ablehnung. Die Ablehnung kommt von Personen, die nie an irgendeine Grenze gestoßen sind, deren Leben immer glatt lief – diese Menschen können sich nicht vorstellen, dass das Leben auch anders als in ihrer Vorstellung verlaufen kann. Ein Leben kann man nicht planen. Die Ablehnung liegt in einer Erwartungshaltung, die – aus Sicht der Zuschauer – nicht erfüllt wird. Mit einer festen Vorstellung jedoch kann ich Dinge, die gezeigt werden, ggf. nicht richtig wahrnehmen.

C.K.: Wie deine Aktionen zunächst von ganz banalen Handlungen ausgehen, um sie dann in der zeitlichen Ausdehnung auf eine symbolische Ebene zu bringen, so sind auch deine Objekte und Bilder durch Verwendung von Fundstücken im Alltäglichen verankert. Durch Verschiebungen oder Streckungen, die Zusammenführung von Dingen aus unterschiedlichen funktionalen Kontexten oder die Verknüpfung mit Textzeilen eröffnest du dann aber auch hier weitergehende gedankliche Bezüge. So funktionieren deine Objekte gewissermaßen wie ein Kōan [im Zen-Buddhismus eine Anekdote oder Sentenz, die eine beispielhafte Handlung oder Aussage eines Zen-Meisters darstellt; Anm.d.Red.], als oft rätselhafter oder paradoxer Ausspruch, der den Betrachter zum Nachdenken und Meditieren anregt und neue Erkenntnisse über die momentane Lebenssituation vermitteln kann. In wiefern ist die fernöstliche Philosophie für dich relevant?

M.L.: Um der Wahrheit näher zu kommen oder sie generell darstellen zu können, bedarf es des öfteren Fehler, die wir bewusst herbeiführen, damit eine Abbildung überhaupt möglich ist. Beispiel: die Weltkarte. Jasper Johns konnte die Erdkugel in der Fläche nicht malen, er hat eine vereinfachte Form gewählt, die in plane Flächen zerlegt werden konnte – so war es ihm möglich, die Erde komplett abbilden zu können. Die entstandene Karte ist in ihren Proportionen verzerrt, die Masse stimmen nicht mit der Wirklichkeit überein. Dieser jedoch bewusst herbeigeführte Fehler macht es uns möglich, die Welt in einer flächigen Karte betrachten zu können und uns ein Bild davon zu machen. Mit den Werken und Zeichnungen verhält es sich ähnlich: ich baue "Fehler" ein, die bewusst machen, dass es einer anderen Wahrnehmung bedarf. Kunst zeigt u.a. Gescheitertes, dass durch die Darstellung erlöst wurde. Mit uns verhält es sich ähnlich: wenn wir zu unseren Fehlern stehen, sie offenlegen, sind wir innerlich befreiter. Wieso ist das, was wir nicht sehen, stärker als das, was wir sehen? Liebe zum Beispiel. Wenn ein Kunstwerk wirklich gut ist, leitet es den Betrachter durch Verknüpfung von Intellekt und Sinnlichkeit – und in gewisser Weise kann der Betrachter somit den "Erfahrungsschatz" des Künstlers nachvollziehen und ihn sich selbst aneignen. Ein Kōan hat etwas sehr Schönes an sich: man sollte ihn intuitiv erfahren und nicht mit dem Verstand zerlegen – das kommt meiner Auffassung, Dinge zu erfahren, sehr nahe. Oder kannst du begründen, wieso du einen Menschen liebst? In dem Moment, wo du Argumente suchst, ist alles vorbei.

C.K.: Kunst bewegt sich von seinen Ursprüngen her in einem Spannungsfeld, dessen Pole sich durch die Begriffe Mythos, Religion, Wirtschaft, Repräsentation und Agitation bestimmen lassen. Wo würdest du dich selbst in Bezug auf diese Koordinaten verorten?

M.L.: In der Kreativität. Etwas schaffen wollen, neue Ideen hervorbringen – das ist das eigentlich Spannende in unserem Leben. Die anderen Begriffe wenden diese Ideen dann nur noch an. Egal, ob sie Mythos, Religion, Wirtschaft usw. heißen.

C.K.: Joseph Beuys hat sein künstlerisches Programm als energetisches System verstanden. Wärme- und Kältepol sind innerhalb dieses Systems einem Ausgleich zuzuführen, um den Fortbestand aller natürlichen, sozialen, ökonomischen und auch kulturellen Entwicklungen zu gewährleisten und nicht in Entropie zu erstarren. Beuys ging dabei ganz entscheidend von der durch Goethe geprägten und von Rudolf Steiner dann aufgenommenen "Morphologie" aus. Ist dieses Konzept für dich ein Anknüpfungspunkt?

M.L.: Beuys hat gezeigt, dass seine Überlegungen stimmig sind. Das ist sehr beeindruckend, wenn du eine Idee, die auf alles übertragbar ist, findest und damit ganz viele Verhaltensmuster erklären kannst. Doch sollten wir selbst nach unseren eigenen Werkzeugen suchen, mit denen wir am besten umgehen und arbeiten können. Beuys hat z.B. die direkte Demokratie durch Volksabstimmung eingeführt – um seinen Mitmenschen ein Werkzeug zu geben, mit dem sie handlungsfähig werden. Er selbst hat dieses Werkzeug für sich nie verwendet - es wäre lustig gewesen, wenn Beuys über seine Fettecke demokratisch hätte abstimmen lassen. Viele meiner Zeichnungen führe ich auf die Entstehung einer Idee zurück, das Fließen im Körper, das Träumen von "Dinglichkeit", daraus leitet sich bei mir das Schaffen ab. Denn ich muss erst eine Idee spüren, bevor ich beginnen kann. Und dies ergibt ein eindeutiges Werkzeug. Das Erträumen, Aufspüren von Möglichkeiten.

C.K.: Zu deiner Diplomarbeit im Fachbereich Architektur an der TU Darmstadt hast du dich selbst als "Mensch" eingereicht. Zum einen artikulierte sich hier eine Verweigerungshaltung gegenüber dem akademischen Kanon, mit der du aber andererseits eine Art "Künstlerisches Manifest" zum Ausdruck bringen wolltest. Könntest du versuchen, dieses in Worten ein wenig zu umschreiben?

M.L.: Es ist keine Verweigerungshaltung, eher eine Erweiterung, wie man generell mit Aufgabenstellungen umgehen sollte. Wir sollten einen Ergänzungsflughafen zum Frankfurter Flughafen planen. Da der Mensch die Verantwortung hat, Lebensräume zu schaffen, muss er sich fragen, ob diese Aufgabe sinnvoll ist. Da der Luftraum in dieser Region überfüllt ist, macht ein Ergänzungsflughafen zur Zeit keinen Sinn. "Wie bekommt man also den Luftraum entrümpelt?" bzw. "Wie kann man sinnige von unsinnigen Flügen aussortieren"? Zur Zeit werden Krabben in der Nordsee gefangen, nach Marokko geflogen, dort geschält und wieder zurückgeflogen. Durch Gespräche können Einsichten erzeugt und die Menschen zum Nachdenken angeregt werden. Jeder einzelne kann entscheiden, wen und was er unterstützen will - man muss nicht die Krabben, die in Marokko geschält wurden, kaufen! Um genau diese Gespräche führen zu können, habe ich den Menschen "Malte Lück" als Arbeit in der Universität eingereicht. Ob das Architektur ist, weiß ich nicht. Es ist jedoch eine Aufgabenstellung zu Ende gedacht. Wir sollten viel mehr Ideen wirklich zu Ende denken, ohne uns den Aufgaben zu verweigern.

C.K.: Deine Bilddiagramme suggerieren bestimmte "Wirkungsmechanismen". Wie Handlungsmaximen vorgestellt, scheinen sie Lehrbüchern aus Ökonomie oder Soziologie entnommen zu sein. Geht es dir dabei darum, deren Methodologie aufzugreifen und dich in deren Systeme gewissermaßen zu infiltrieren, um hierüber Veränderungsprozesse herbeizuführen? M.L.: Wir können nur etwas bewusst verändern, wenn wir es verstehen. Also setze ich mich hin, und zeichne die Gesellschaft, so wie sie aus meiner Überlegung heraus funktioniert. Wenn das System sichtbar ist, fällt es leichter, zu sehen, wo wir ansetzen sollten, damit wir - mit unserer geringen Kraft als einzelner - Wirkung erzielen können.


Kommentar von Christoph Kivelitz

"Der Lesende tut nichts", diese Aussage steht am Anfang der Aktion "lebliches" von Malte Lück. Die Videodokumentation dieser Aktion konfrontiert den Betrachter mit der Nahaufnahme eines Mundes, der diesen Satz artikuliert. Diese Behauptung ist zwar nicht unmittelbar an den Betrachter adressiert, stellt sich ihm in ihrem apodiktischen Charakter allerdings als Provokation dar, wird ihm hier doch eine Haltung der Passivität unterstellt. Das nach einem Schnitt in weißen Majuskeln auf schwarzem Grund aufscheinende Wort formuliert daraufhin ein Paradox: ANALPHABET. Der Betrachter entziffert einen Begriff, der ihm die Unfähigkeit suggeriert, diese Buchstabenfolge verstehen und deuten zu können. Auch hier bleibt unklar, auf wen dieser Begriff sich beziehen mag: auf den Künstler, den Betrachter oder eine weitere in die Aktion mehr oder minder involvierte Person? Als Auftakt der Aktion werden zwei unterschiedliche Wahrnehmungsebenen und Verhaltensweisen gegenüber gestellt: Das Bemühen, die Bewegungen des Mundes visuell zu verfolgen und mit dem akustisch Vernommenen zu verknüpfen, stellt sich als kommunikative Handlung dar; das begrifflich- logische Verstehen eines gelesenen Textes wird davon abgehoben als eine Haltung, die Interaktion und Begegnung letztlich verhindert. Ein ratterndes Geräusch leitet über zum nächsten Schnitt, mit dem die eigentliche Aktion "lebliches" ihren Anfang nimmt. Das eng gefasste Bildfeld zeigt – auf Augenhöhe mit dem Betrachter – den Oberkörper einer bäuchlings auf einer schwarzen Bodenplatte liegenden, schwarz gekleideten männlichen Gestalt. Der Blick ist von der Kamera abgewandt, die Arme sind ausgestreckt. Über Schläuche ist der Mann – offenbar der Künstler selbst – an ein gläsernes Gefäß mit einer gelb-bräunlichen Flüssigkeit angeschlossen. Ein Drehschalter legt nahe, dass es sich hierbei um ein technisch-medizinisches Gerät handeln mag. Dem Betrachter drängt sich angesichts dieser Szene die Frage auf, ob hier eine lebenserhaltende Maßnahme ergriffen wurde, indem dem inaktiv daliegenden Mann – gleichsam als Patienten – eine entsprechende Substanz zugeführt wird, oder aber diesem in einem Experiment durch die Pumpe seine Lebenskräfte entzogen werden. In jedem Fall unternimmt der Mann nach einer Weile völliger Inaktivität den Versuch, sich mühsam aufzurichten, um jedoch in diesem Unterfangen zu scheitern und wie leblos in sich zusammenzusacken. Allein durch diese deutlich spürbare und mehrfach in Folge unternommene Kraftanstrengung erweist sich der noch vorhandene Lebenswille des Protagonisten. Offen bleibt dabei zunächst die Frage, ob dieses Sich-Aufbäumen auf die zugeführte Substanz oder auf den Widerstand gegen diese Versuchsanordnung zurückzuführen ist. Nach einer Weile tritt ein zweiter Akteur ins Bild. Nachdem dieser die Schläuche vom Körper des Künstlers abgelöst hat, gelingt es letzterem, sich offenbar fast mühelos aufzurichten und von der Bodenplatte zu erheben. Erst jetzt wird deutlich, dass der Mann durch das Pumpensystem zwar am Leben gehalten, doch gleichzeitig daran gehindert wurde, selbst aktiv nach außen zu treten. Die ihm erbrachte Hilfestellung war Voraussetzung dafür, sich aus diesem in sich geschlossenen Kreislauf freizumachen und für sich einen Handlungsraum zu gestalten. Durch einen Stecker lässt der Künstler daraufhin das Wort "ermöglichen" in Leuchtschrift aufscheinen. Hierüber sieht der Betrachter sich zurück verwiesen auf den Prolog zur Aktion, in der das Lesen als Haltung der Inaktivität und Bewegungslosigkeit von der Kommunikation per Gespräch und sinnlich-visueller Begegnung abgehoben wurde. Das Leuchten des Neonbandes erschwert allerdings das Entziffern der Buchstabenfolge, die in ihrer Farbigkeit und Helligkeit – unabhängig von ihrer Bedeutung – die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Im Folgenden ergreift der Künstler die Bodenplatten, auf denen er zuvor selbst aufgelegen hat, und verdunkelt mit diesen den Schriftzug, bis dass allein der Buchstabe "ö" sichtbar bleibt und er den Raum schließlich verlässt. Bild und Schrifthaftes scheinen sich in diesem Klangvokal zu verbinden, scheint es sich doch gleichermaßen um die piktogrammatische Darstellung eines Gesichts mit aufgerissenem Mund als auch um besagten Umlaut zu handeln. Indem der Betrachter diesen dem begrifflich-logischen Kontext entzogenen Laut selbst artikuliert, wird ihm ein Geräusch hörbar, das dem einer tiefen, pulsierenden Atembewegung durchaus nahe kommt und ihm durch dieses Atmen seine eigene Körper- und Leibhaftigkeit vergegenwärtigt. Der Betrachter wird – angeregt durch die Handlung des Künstlers und seines Helfers – selbst zum Akteur, dem über diesen Körperklang "lebliches" anschaulich erfahrbar wird. In einer bis aufs Äußerste reduzierten Versuchsanordnung formuliert Malte Lück ein szenisches Sinnbild, das sich modellhaft auf soziale und individuelle Realitäten und Befindlichkeiten beziehen lässt. Er zeigt eine Situation der Erstarrung und Apathie, die zwar das Fortbestehen des Systems garantiert, doch jede Perspektive auf Entwicklung und Veränderung ausschließt. Erst die Begegnung zweier Menschen, das Aufeinanderzugehen und die wechselseitige Hilfestellung bringen den Impuls für eine Erneuerung, die schließlich auch Denken und Fühlen, logisches und intuitives Begreifen, körperhaftes und geistiges Erkennen wieder in Einklang zusammenführt. So setzt der Künstler den Impuls, im zwischenmenschlichen Dialog und durch gemeinschaftliches Handeln die Gesellschaft selbst als "lebliches" zu betrachten und zu erleben.

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Link Website von Malte Lück