Christoph Kivelitz und Regina Selter, im Katalog:
Hrsg. Rosemarie E. Pahlke u.a., Museum am Ostwall, Dortmund, Kerber Verlag, Bielefeld, 2005. Mit Texten von Cornelia Gerner, Per Hovdenakk, Christoph Kivelitz, Rosemarie E. Pahlke, Ralf Seidel, Regina Selter, Barabara Nierhoff und Kirsten Xani. ISBN 978-3-938025-03-1
Die Gewichtung von Mensch und Raum ist neben den konzeptionellen Schwerpunkten von Frau und Mann, Melancholie und Einsamkeit ein grundlegendes Kriterium, um sich dem Motiv- und Gestaltungsrepertoire von Edvard Munch anzunähern. Munchs neue Raumauffassung, das Zusammenspiel von Figur und Umfeld, beinhaltet eineü bergeordnete psychologische Dimension, die sich auch auf Positionen der zeitgenössischen Kunst übertragen lässt. Folgende Bildtypen sind in diesem Kontext von Relevanz:
Munch hat grundsätzlich in Werkgruppen gearbeitet, um eine bestimmte Themenstellung zu variieren und in Paraphrasen neue Ausdrucksintensitäten zu entwickeln. So entsteht ein relativ eng gefasstes motivisches Repertoire, allgemein-menschliche Erfahrungen und psychische Befindlichkeiten umkreist. Es handelt sich um Empfindungen, die nicht unmittelbar, durch erzählerische Mittel, darzustellen sind, sondern sich auf einer psychologischen Ebene abspielen, letztlich also die intuitive und subjektive Wahrnehmung on Wirklichkeit berühren. Als Stimmungsbilder artikulieren sie sich in der konzeptionellen Verknüpfung von Mensch und Raum.
Ausgangspunkt und Schnittstelle der folgenden Ausführungen über die Raumauffassung Munchs ist die Metapher des "roten Hauses". Dies kommt in exponierter Weise im Bild Roter wilder Wein (ca.1900) zur Darstellung. Sujet des Gemäldes ist ein großes kastenartiges Haus, das Kiøsterud-Gebäude in Åsgårdstrand, dessen Äußeres von einem zu quellen scheinenden Rot überzogen wird. Dieser Farbakzent lässt sich über den Titel des Bildes als roter wilder Wein deuten. Die rote organische Überwucherung wird von Munch umgedeutet zu einem Symbol für ein dramatisches Ereignis. In einer früheren Darstellung dieses roten Hauses, aus den Jahren 1898-1900, wird zusätzlich am vorderen Bildrand das vor Schrecken grünbleiche Gesicht eines Mannes gezeigt, der vor einer imaginären Bedrohung geflüchtet zu sein scheint. Das aus der Untersicht wahrgenommene Haus ist durch perspektivische Verkürzungen diagonal ins Bild gesetzt und entzieht sich so dem unmittelbaren Zugriff. Obgleich kein Mensch zu sehen ist, ist eine menschliche Präsenz vorstellbar, sei es im Inneren des Hauses oder verborgen in nicht einsehbaren Bereichen des Außengeländes. Dieser Eindruck wird verstärkt, indem das Haus - als Behausung verstanden - assoziativ immer auch den Bezug auf den Menschen in sich birgt. Obwohl das Gebäude sich durch die perspektivische Anlage selbst körperhaft behauptet, wird zugleich ein Innenraum negiert. Die Fensterscheiben wirken in ihrer blauen Färbung wie transparent und schaffen die Illusion, einen Durchblick unmittelbar auf den Himmel zu eröffnen. In dieser Wahrnehmung gewinnt der plastisch gebaute Körper als bühnenhaftes Versatzstück Leichtigkeit. Die Differenz zwischen Vorstellung und Gesehenem baut eine Spannung auf, die durch die emotionalisierende Aussagekraft der Farbe Rot dem Bild eine fast bedrohliche Qualität verleiht. Imaginär zeichnet sich ein Drama ab, das sich im Haus oder in dessen Nähe ereignet hat. Das Verhältnis von Innen und Außen gestaltet sich zum energetischen übergeordnete Feld, das sowohl Bewusstseins- und psychologische Ebenen als auch Handlungsräume betrifft. Es vermittelt sich eine suggestive, bedrückende Stimmung. In einer paradoxen Wirkung stellt der Raum sich, wenn auch menschenleer, als bevölkert dar.
Edvard Munch findet im Motiv des "roten Hauses" eine "Leerformel", die auf real Nicht-Sichtbares verweist, um hierüber bestimmte Vorstellungen impulsiv herbeizuführen. Dieses Verfahren bietet gerade auch zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern Anknüpfungspunkte. So finden wir das Motiv des Hauses mit unterschiedlichen Akzentuierungen bei André Butzer, Robert Gober, Antony Gormley, Peter Doig, Jörg Sasse und Kirsten Johannsen.
In seinem Bild Ohne Titel (Rotes Haus mit Tannen, 2004) zitiert André Butzer das "rote Haus" als Symbol für ein künstlerisches Programm, auf das er sich im Sinne einer Hommage identifikatorisch zu beziehen sucht. In ikonographischer Nähe zu Munch schafft Robert Gober in seinem Objekt Burnt House (1980) ein Modell seines Elternhauses, das durch Brandspuren an der Fassade aufgerissen ist. In der Ambivalenz von Zerstörung und Geborgenheit veranschaulicht sich eine konfliktgeladene Kindheitserfahrung. Im Gemälde Red House (1995/96) von Peter Doig erscheint im Mittelpunkt einer verschneiten Landschaft ein Haus, dessen Fenster als schwarze Löcher markiert sind und das sich folglich der Sehnsucht nach Geborgenheit verschließt. Die schemenhaften Gestalten im Umfeld des Hauses unterstreichen die geheimnisvolle Bildwirkung, in der Innenund Außenraum symbolisch verknüpft werden: "Das Einfamilienhaus im Bild transportiert [ ... ] katastrophische Momente. [Die] zerschlagene[n] Fensterscheiben sprechen von der gewalttätigen Öffnung des Innen, sie sprechen vom Tod, während die an den Bildrand gedrängten Schattenfiguren nach Spuren suchen, die eine Erklärung und einen Sinn nahe legen könnten."
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Den vollständigen Text als PDF herunterladen - über Edvard Munch, mit Absätzen über Eija-Liisa Ahtila, André Butzer, Peter Doig, Tracey Emin, Eric Fischl, Robert Gober, Nan Goldin, Antony Gormley, Kirsten Johannsen, Martin Kippenberger, Maria Lassnig, Lotte Konow Lund, Mariele Neudecker, Jörg Sasse, Sam Taylor-Wood