Christoph Kivelitz

'Generation Wellness' - Dysfunktionale Funktionalismen

Christoph Kivelitz, im Katalog:

Und es bewegt sich doch … Von Alexander Calder und Jean Tinguely bis zur zeitgenössischen mobilen Kunst

Kunstmuseum Bochum, 11.6. – 3.9. 2006. Kuratiert von Hans Günter Golinski, Sepp Hiekisch-Picard und Christoph Kivelitz.

Fit, flexibel und selbstbewusst, dies sind Kriterien der heutigen westlichen Gesellschaft, die Jugendwahn, Beweglichkeit- und Gesundheitskult zu unumstößlichen Leitbildern erhoben hat. Körperliche Fitness soll einerseits der Schönheit dienen, andererseits auch demonstrieren, dass man auch im Alter noch aktiv und jugendlichsportlich ist. "Wellness" (englisch), als Begriff Ende der 1990er Jahre in die deutsche Umgangssprache eingegangen, ist eine Wortschöpfung aus "well-being" und "fitness". Es ist eine Zusammenfassung für die unterschiedlichen Methoden, die zum Wohlbefinden beitragen sollen. "Well-being" bildet die Grundlage der WHO-Gesundheitsdefinition von 1948: "Gesundheit ist der Zustand eines vollkommenen körperlichen, seelischgeistigen und sozialen Wohlbefindens."1 "Fitness" ist der Begriff für einen Sport-Trend in den USA, der vom Deutschen Sportbund in der "Trimm-Dich-Bewegung" übernommen wurde. Eine klare Definition von "Wellness" ist unmöglich, da jeder etwas anderes darunter verstehen kann. Es geht um ein Wohlbefinden, das sowohl Gelassenheit und Entspanntheit als auch Energiegeladenheit und Munterkeit einschließt und mithilfe von gesunder Ernährung, viel Bewegung und Sport aktiv angestrebt wird. Aufgrund der heutigen schnelllebigen Zeit soll "Wellness" einen Ausgleich schaffen. "Wellness" vermittelt Entspannung und das Gefühl, etwas für sich selbst, den Ausgleich von Körper und Geist zu tun. Letztlich ist es eine Kompensationsstrategie in einem Alltag, der kaum noch Freiräume für selbstbestimmtes Handeln lässt. Mit "Wellness" verbindet sich der Wahn, durch Energie, Willenskraft und Disziplin unter Anleitung eines Trainers und unter Anwendung bestimmter "Fitnessgeräte" alles wieder in den Griff zu bekommen und dabei auch den Körper ewig jung und leistungsfähig zu erhalten. Eine komplett technisierte, elektronisierte und mediatisierte Welt lässt das praktische Alltagsleben durch teilweise absurde Hilfsmittel scheinbar so einfach wie möglich werden. Man dockt seinen Körper an Maschinen an, im Glauben, sich hiermit von der Herrschaft der Maschine und der Monotonie des Arbeitslebens freizusetzen oder einfach mit einem "stählernen body" selbst maschinengleich zu werden.

Im zeitgenössischen Gewand lebt hier, zum kommerziellen Massenprodukt erhoben, der Topos des "Neuen Menschen" neu auf, so wie er von den Avantgarde-Künstlern des 20. Jahrhunderts als Utopie vorgezeichnet worden ist. Gustav Kluzis entwarf so etwa einen Sportanzug mit Sprungfederschuhen, quasi modernen "Siebenmeilenstiefeln", mit denen übermenschliche Entfernungen überwunden werden sollten. Ein von Piotr Miturich skizziertes Tauchgerät sollte den Menschen in die unendlichen Tiefenräume der Meere vorstoßen lassen. Wladimir Tatlin arbeitete über Jahre an einem Flugapparat, der dem Vogelflug nachempfunden sein sollte, obgleich bereits seit dem Ersten Weltkrieg erste Flugzeuge technisch realisierbar waren.2 Leitbild war die Symbiose des Körpers mit technischen Konstrukten, die die Fähigkeiten des Menschen nach dem Vorbild der Natur prothetisch erweitern sollten, ohne ihn hierbei selbst der Maschine zu unterwerfen. In einer Vorwegnahme der Bionik3 nimmt der Künstler damit in gewisser Weise die Konkurrenz zur technischen Entwicklung auf. Dies verbindet sich mit einer bisweilen grotesken Wettstreit-Situation, im Sinne eines modernen Paragone4 zwischen Kunst und Wissenschaft, so noch bei Panamarenko (*1940), der sein nahezu gesamtes Schaffen von 1965 bis in die jüngste Gegenwart der visionären Schöpfung von Fluggeräten gewidmet hat, obgleich in diesem Bereich längst Hochtechnologien zur Anwendung kommen. Der visionär-utopische Ansatz der Künstler zielte folglich auf absurde Erfindungsstrategien, die den realen Fortschrittskonzepten eher als Verzögerungsstrategie entgegen gestellt wurden. So verfolgten die genannten Künstler nicht die Unterwerfung der Natur und die ständige Optimierung der wirtschaftlichen und militärischen Möglichkeiten, vielmehr die Erweiterung der Wahrnehmung und der Imagination, die Gestaltung kreativer Freiheitsräume jenseits der Verwertungskonzepte des Funktionalismus. Indem der Künstler natürliche Wachstumsprozesse und Bewegungsabläufe mit einer besonderen Sensibilität aufzunehmen vermöge, sei allein er zu innovativen und schöpferischen Leistungen befähigt. In diesem Selbstverständnis artikuliert sich ein romantisch gestimmter Zukunftsglaube: Ein Weltraumanzug mit Schuhen und Federn - von Gustav Kluzis visionär entwickelt - sollte das Gehen oder Springen in einem Zustand der Schwerelosigkeit, in völliger Freiheit von irdischen Gebundenheiten erlauben. Im Sinne des Suprematismus von Kasimir Malewitsch und unter dem Einfluss der Einsteinschen Relativitätstheorie unternimmt der Künstler das utopische Experiment, in eine "gegenstandslose Welt", in ein multidimensionales System jenseits der linearen Konstruktionen von Raum und Zeit vorzustoßen.

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- Den vollständigen Text als PDF herunterladen - mit Absätzen über Cornelius Kolig, Wendy Jacob, Julien Berthier, Werner Reiterer, Roman Signer, Michael Sailstorfer, Matthias Schamp, Attila Csörgö, Max Sudhues, Nol Hennissen.