Christoph Kivelitz

Jing Kewen, Through the Glory

Katalog, 2008. Hrsg. Galerie Frank Schlag & Cie., Essen. Texte: Dr. Christoph Kivelitz, Jonathan Goodman. Deutsch / Englisch, 68 Seiten.

Katalogtext von Christoph Kivelitz

Das Bild des Menschen spielt eine ganz entscheidende Rolle in der Kunst Chinas. Seit der Kulturrevolution prägen Plakatmotive mit heroischen Gestalten, Leitfiguren der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung das öffentliche Leben. Der Doktrin des Sozialistischen Realismus getreu verkörpert sich in ihnen das visionäre Zukunftsbild einer technisch und kulturell fortschrittlichen Gesellschaft. Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit sind – so der Tenor der Plakatpropaganda – die gestaltenden Faktoren des sozialen Miteinanders. Der industrielle Aufbau und der optimistisch in die Zukunft blickende Mensch sind die vorherrschenden Themen dieser massenhaft verbreiteten Bildikonographie. Diesem klar strukturierten und zentral gesteuerten motivischen Fundus stehen private Erinnerungsalben gegenüber, in denen die offizielle Rhetorik mit dem individuellen Schicksal, mit persönlichen Geschichten und Erfahrungen kollidiert. Aufgrund der ökonomischen Sonderentwicklung Chinas dringen in den letzten Jahren aber auch verstärkt Wellen der westlichen Bilderfluten in die zuvor weitestgehend geschlossene Gesellschaft vor. Die westliche Kunstgeschichte und die Bildrhetorik der Werbung und Massenmedien werden begierig aufgesogen. Ein weiteres Themenfeld eröffnet sich der Kunstszene Chinas durch die neuerliche Auseinandersetzung mit der eigenen Kunst- und Kulturgeschichte, die durch die Kulturrevolution eine radikale Zäsur erfahren hatte. Der in sich höchst spannungsvollen und widersprüchlichen Realität des Landes entsprechend, bewegen sich die zeitgenössischen Künstler Chinas in einer komplexen Gemengelage unterschiedlicher, sich strukturell ausschließenden Bildsysteme. Deren Aufnahme und Verarbeitung ist Voraussetzung dafür, eine dieser Realität angemessene Identität auszuformulieren und sich im globalen Kunstmarkt zu positionieren.

Für diese Problematik hat Jing Kewen eine adäquate künstlerische Methode gefunden. Er verwertet für seine künstlerischen Werke alte Fotos, Illustrierte und auch private Fotoalben, die er auf Trödelmärkten aufgestöbert hat. Diese Fundstücke verarbeitet er malerisch zu neuen bildnerischen Wirklichkeiten. Durch reinbunte Farben und helle Schattierungen vermitteln die Bilder Eindrücke von warmen und sonnigen Tagen: Die Sonne strahlt auf eine grüne Wiese, Magnolien wiegen sich in einer leichten Brise, Dinge spiegeln sich auf der Wasseroberfläche eines Teiches und Kleider schimmern im Sonnenglanz. Impressionistische Effekte und strahlende Farbigkeit verstärken die Wirkung gleißender Helligkeit und ungebrochener Lebensfreude, so wie es der staatlichen Plakatrhetorik durchaus entspricht. Die Bilder von Jing Kewen verstehen sich jedoch nicht als Beschwörungsformeln einer mittlerweile nostalgisch anmutenden sozialistischen Propaganda. Die durch den Künstler geschaffene Wirklichkeit stellt sich eindeutig als eine durch malerische Mittel, durch Farb- und Formbezüge geschaffene dar und gewinnst so eine ganz persönliche, eben nicht propagandistisch vorgeprägte Qualität. Es geht nicht mehr darum, ein durch die Partei vorgegebenes Zukunftskonzept – als Abglanz der Utopie – bildhaft umzusetzen, vielmehr darum, eben dieses Konzept als ein solches der Vergangenheit neu zu definieren und mit den eigenen bildnerischen Mitteln zur Anschauung zu bringen. Nur auf den ersten Blick scheinen Figur und Umfeld dem motivischen Repertoire sozialistischer Plakatpropaganda entnommen zu sein. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch augenfällig, dass die jeweilige Szene sich nicht im Sinne dieser Rhetorik inhaltlich aufladen lässt. Die selbstbewusste, fast provokant optimistische und extrovertierte Haltung der Bildprotagonisten des Sozialismus ist einem eher melancholisch versunkenen, introvertierten Habitus gewichen. Zwar sind die Figuren in der Porträtfotografie entlehnten Posen festgehalten, doch mit dem landschaftlichen Umfeld sind sie eher durch Farb- und Lichtbezüge denn durch inhaltliche Querverweise verschränkt. Der appellative Charakter des Propagandabildes tritt zurück in einer eher beiläufig anmutenden Momentaufnahme, in der eine Szene des Alltagslebens eine ästhetische Überhöhung erfährt. Dementsprechend verzichtet Jing Kewen in seinen Bildern vollständig auf textliche Einschübe, so wie sie für die sozialistische Plakatrhetorik unentbehrlich sind. Text und Bild dienen hier der wechselseitigen Bekräftigung, um durch diese Redundanz in Anlehnung an die semantische Struktur des Emblems höchste Prägnanz und Eindringlichkeit der agitatorischen Aussage zu gewährleisten. Indem Jing Kewen entsprechende Slogans und Formeln auslässt, führt er die zu heroischen Leitfiguren entrückten Gestalten auf die Ebene des Alltagslebens zurück. Damit projiziert er das optimistische Pathos aus dem abstrakten Zukunftsbild auf seine gelebte Gegenwart zurück.

Aus der Verklammerung und gleichzeitig Verfremdung unterschiedlicher Bildkonzepte erklären sich auch die den jeweiligen Bildszenen eingeschriebenen, narrativ nicht zu erschließenden Brüche. Möglicherweise handelt es sich um Figuren und Gestalten, die zufällig gefundenen Fotografien entnommen sind. Diese für den Betrachter unbekannten und völlig unbedeutsamen Gestalten werden dann aber durch das Zitat einer massenmedial verbreiteten politischen Ikonographie in einen allgemein verständlichen, unmittelbar wieder zu erkennenden Interpretationsrahmen gestellt. So verwandelt der Künstler die anonymen Figuren in öffentlich lesbare, in denen die geläufigen Leitbilder des Sozialismus aufscheinen mögen, um diese gleichzeitig durch subtile Verschiebungen ins Leere laufen zu lassen. Indem Jing Kewen das Bildgedächtnis auf unterschiedlichen, zeit-räumlich divergenten Ebenen anspricht, werden die Vorstellungskraft und Fantasie des Betrachters in besonderer Weise angeregt. Dabei geht es nicht darum, die politische oder soziale Realität seines Landes zu kritisieren oder eindeutig dagegen Stellung zu beziehen, noch werden alte Zeiten herbeigesehnt oder dem Pathos freien Lauf gelassen. Um seine künstlerische Position zu finden, greift er vorgefundene Bildstrukturen auf, versucht sie miteinander zu versöhnen oder ineinander zu blenden, ohne damit deren konträre Funktions- und Wirkungsweisen in Frage zu stellen. Der Schnelllebigkeit seiner Gegenwart stellt er eine betont handwerkliche, eigentlich traditionelle Fertigung gegenüber, um damit auch der für sein Land charakteristischen Gleichzeitigkeit heterogener Entwicklungsstränge, zwischen Tradition und Fortschritt, Zukunftsgläubigkeit und Existenzkampf Ausdruck zu geben. Jing Kewen untersucht das Bildgedächtnis seiner Gegenwart und einer sich zunehmend komplex und widersprüchlich entwickelnden Gesellschaft. Für seine Epoche und die Situation beschleunigten und forcierten Wandels findet er dabei ganz einfache, intuitiv verständliche und emotional zugängliche Bildformeln.

 

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