Christoph Kivelitz

Malte Lück

Häutling: "Ich bin verwundbar, doch ihr trefft mich nicht."

Katalog zu den Ausstellungen von Malte Lück im Dortmunder Kunstverein, 2007 (Kurator: Dr. Christoph Kivelitz) und im Kunstverein Wesseling, 2008


Dr. Christoph Kivelitz (CK) und Malte Lück (ML) im Dialog

Malte Lück, HäutlingCK: Der Begriff "Häutling" - wiederum eine für deine Aktionen und Objekte charakteristische Wortneuschöpfung - berührt unterschiedliche Vorstellungen von der Haut, der Außenhaut des Menschen, über dessen Körper und Leiblichkeit bis hin zum "Häuptling". Ein rein anatomischer Aspekt verbindet sich hier mit einer existenziellen Kategorie, um dann aber auch in einen symbolischen Bereich vorzustoßen. Der "Häuptling" hat letztlich auch etwas zu tun mit indianischen oder schamanistischen Ritualen. Welche Aspekte sind hier für dich von besonderer Relevanz?

ML: Das Wort "Häutling" ist abgeleitet von dem Verb "sich häuten". Einige Reptilien beispielsweise häuten sich, weil ihr starrer Panzer nicht mit dem Inneren mitwachsen kann. Diese Tiere streifen ihre alte Haut ab, um weiter wachsen zu können. Der Vorgang ist auch beim Menschen möglich. Hier ist der Ausgangspunkt geistig und emotional – und daher nur bedingt sichtbar. Er kann seine "äußere Hülle" abstreifen – jedoch nur, wenn er sein Inneres mit sich selbst ausgefüllt hat und nichts Fremdes in ihm ist. Ähnlich wie bei einer Zwiebel ist es möglich, eine "neue" Hülle aus dem Inneren entstehen zu lassen. Dazu muss er sich selbst vorher erkannt, gefunden und bewahrt haben. Wenn der Mensch seine Hülle nicht mit sich ausfüllt, ist ein Häutungsprozess nicht möglich. Die Hülle ließe sich nicht von dem Inneren ablösen. Es käme einer Zerstörung gleich – wie ein Ballon, den man häuten will: er zerplatzt. Beschäftigt man sich mit den beiden Wörtern Häuptling und Häutling, so wird der Anknüpfungspunkt durch den Ursprung seines Handelns deutlich. In Indianerstämmen musste der Häuptling, wenn er ebenfalls Medizinmann werden wollte, ein Initiationsritual, einen Selbstfindungsprozess, durchlaufen, ohne das er nicht in sein Amt berufen werden konnte. Das "Sich-gefunden-haben" ist die Voraussetzung dafür, sich als menschliches Wesen überhaupt häuten zu können. Nur ein Häutling kann in unserer Welt wirklich Menschen führen, da er seine Mitmenschen nicht zweckgebunden lenkt, sondern sie zu sich selbst führt. Zu den Wortneuschöpfungen: Manche Dinge können wir in unserer bestehenden Welt mit dem, was wir kennen, nicht oder nur unzureichend ausdrücken. Daher suche ich nach Bildern und Wörtern, die uns genau diese mangelhaften Beschreibungen von Zusammenhängen verständlicher machen.

CK: Was bedeutet es für dich, dich in der Aktion mit einer Wunde zu zeigen? Zeigst du dich selbst verletzlich, am Übergang zwischen Leben und Tod? Inwiefern spielt diese Schwellensituation für dich eine Rolle?

ML: Kennst du einen Menschen, der sich nicht verletzt hat? Der noch nicht verwundet war? Die Wunde gehört zum Menschen dazu. Es kommt jedoch darauf an, wie wir damit umgehen. Wenn du verwundet wurdest, hast du eine Schwäche. Die Wunde markiert diese Stelle. Sich mit einer Wunde zeigen heißt auch, sich mit dieser Schwäche zeigen: "Ich bin (an dieser Stelle) verwundbar." Diese Einsicht ist entscheidend – für den Heilungsprozess und für das weitere Verhalten mit dieser Verwundung. Eine Wunde bringt Schmerz und Angst vor einer neuen Verletzung mit sich und für die Zeit der Heilung eine meist größere Einschränkung. Wir bekommen beigebracht, perfekt sein zu müssen, keine Schwäche zu zeigen. Daher ist es für uns ungewohnt, uns mit unseren Wunden intensiv auseinanderzusetzen, geschweige denn, sie anderen Menschen zu zeigen. In der Aktion, die in dem Film verkürzt dargestellt ist, liege ich ca. eine Stunde regungslos mit geschlossenen Augen auf dem Bauch. Die Zuschauer müssen sich selbst beantworten, was geschehen ist und in welcher Situation ich mich befinde. Sie haben jedoch die Möglichkeit, mich von allen Seiten zu beobachten. Durch meine Atmung bewegt sich der Speer leicht – wie ein Seismograph. Der Betrachter kann daran erkennen: ich lebe. Der Raum, in dem wir uns im Leben bewegen, hat keine festen Grenzen. Es gibt an vielen Stellen Übergangsmöglichkeiten, z.B. beim Träumen. Wir können diesen Raum mit einem normalen Zimmer vergleichen, in dem Türen und Fenster sind. Wir kennen den Raum nur von innen. Durch den Blick aus dem Fenster jedoch bekomme ich eine Vorstellung von dem Raum hinter dem Glas. Wenn ich das Fenster aufmache, kann ich auch den Raum draußen mit seiner Temperatur, seinem Geruch und seinen Geräuschen empfinden. Und ich erfahre, dass ich, wenn ich in den anderen Bereich eintrete, den verlassenen Raum nicht mehr ändern kann. Die Grenzerfahrung gibt mir einen intensiven Einblick. Sie macht uns den Raum, in dem wir uns aufhalten, bewusster. Wir selbst können als Menschen aktiv an der Gestaltung unseres Raumes mitwirken! Und durch die Erfahrung mit einer Schwellensituation nutzen wir meist öfter diese Gelegenheit.

CK: Inwieweit verstehst du deine Aktionen als Rollenspiel, als Inszenierung, die beim Betrachter bestimmte Prozesse auslösen soll? Ich denke da durchaus an klassische Theaterkonzeptionen, die ja auf eine Katharsis beim Zuschauer ausgerichtet waren. Gibt es bei dir eine Nähe zu diesem Modell?

ML: Das Reine interessiert mich schon lange. In ihm steckt alles Schöpferische, der gesamte Ausdruck des menschlichen Seins – das Ur. Vom Reinen aus kannst du alles sein. Wie ein weißes Blatt – das kann auch jedes Bild sein, bevor du mit dem Zeichnen anfängst. Der Reinheitsprozess ist ein ständig währender Zyklus: vom rein sein, zum schlucken müssen, ablagern und verfestigen, aufrütteln, aus den Poren entweichen, wieder rein sein. Der Mensch wird rein geboren – eine ideelle Vorstellung. Dann kommt mit der Geburt der Eintritt in die Gesellschaft. Hier fängt das Verunreinigen an. Die Gesellschaft trägt an den Neugeborenen etwas heran, was nicht seinem Naturell entspricht. Die Gesellschaft vermutet, dass das, was sie selbst nicht vermocht hat, andere Menschen auch nicht zu Stande bringen. Hierbei zeigt sie diesem Menschen jedoch das eigene Gescheitertsein – und versucht um so stärker, die Unternehmungen dieses Menschen zu verhindern. Du schluckst also jedes Mal diese Widrigkeit, die in Wirklichkeit keine ist. Entweder wirst du komplett mit diesen Dingen angefüllt und versteifst, oder du versuchst dich davon zu befreien. Die an dich herangetragenen Zwänge der anderen kannst du durch Übung transformieren in deine eigene Freiheit – in das Reine. Der Prozess des Transformierens ist vergleichbar mit dem Umstellen eines Möbels im Raum. Wenn du anfängst einen Stuhl zu rücken, dann stimmt seine Funktion nicht mehr mit den anderen Gegenständen im Raum überein. Du hast die Möglichkeit, den Stuhl zurückzustellen oder alles andere an ihm auszurichten. Das ist sehr ähnlich wie mit unserem gesamten Ordnungssystem im Leben. Ändert sich eine Komponente, bekommst du ganz neue Abläufe und Zusammenhänge. Wenn also nur ein Element aus dem Gefüge verändert wird – das kann z. B. auch eine Vorstellung sein, dann hat das Auswirkungen auf dein gesamtes Leben. In der Kunst kann ich durch Bilder und Aktionen dem Zuschauer Auswege und Möglichkeiten, wie ich mit Widrigkeiten umgehe, aufzeigen. Das hat große Ähnlichkeiten mit dem Vorgang der von Aristoteles beschriebenen seelischen Reinigung. In der Aktion zum Beispiel verdeutliche ich, wie wir mit Verwundungen umgehen können: "Derjenige, der ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein" – so heißt es doch. Es sagt dir aber keiner, dass, wenn du den Stein geworfen hast, du selbst nicht mehr unschuldig bist. Die Unschuld, die von Geburt an in dir ist, kannst du bewahren, indem du die Verletzung durch Liebe transformierst, um damit die Ausstrahlung und Kraft des Reinseins zu erhalten. Dies ist ein Zyklus, der immer wieder trainiert und erlernt werden muss. Es ist ebenfalls ein Häutungsprozess – sich von den angetragenen Dingen befreien zu können. Und in dem Moment, in dem du wieder rein bist, bist du unschuldig. Die Wunden, die dir dann zugefügt werden, entstehen durch Reflektion der Unfähigkeit, die der Verletzer dir anträgt. Daher bist du aus der Sicht des Reinen nicht treffbar. Die Gewalt fängt schon mit der Erziehung an. Schon im Kindesalter bekommen wir zu hören, wenn ein anderes Kind uns geschlagen hat: "Du musst lernen, dich durchzusetzen." Das hat nichts Mitmenschliches – die Transformationsmöglichkeit und die Liebe ist es, die uns von den Tieren unterscheidet. Statt die Energie des anderen einfach nur weiterzuleiten, sollten wir sie reflektieren. Wenn eine innere Verarbeitung stattfinden würde, hätten wir gelernt, mit der Gewalt wirklich umzugehen. Ein sehr gutes Beispiel hierf ür ist die Geschichte "Maßnahmen gegen die Gewalt" von Berthold Brecht. Das Transformieren dieser Energie in etwas Friedvolles sollte die größte Herausforderung sein, die wir als Menschen annehmen können – und daraus resultiert dann letztendlich Güte.

CK: Welche Bedeutung haben für dich die Verschriftlichung und die Dokumentation deiner Aktionen?

ML: Die Dokumentationen sind ebenso entscheidend wie die eigentliche Aktion. In der Aktion arbeite ich sehr stark aus meinem Gefühl heraus. Beispiel: Die Nierenschale in der Aktion. Ich habe mich f ür diese Schale entschieden, obwohl andere Waschschüsseln optisch besser zum Bild gepasst hätten. Im Nachhinein – beim Ausarbeiten dieser Dokumentation – ist mir aufgegangen, dass die Niere ein "Giftfilter" ist. Ich kann meine Aktionen nur dann erklären, wenn ich schon länger diese Arbeiten verinnerlicht habe. Dann kommt das Verständnis für das Gespürte hinzu. Die Aktion ist von der ersten Idee bis zur Realisierung schon acht Jahre alt – und erst jetzt wird mir immer deutlicher, was ich da eigentlich gemacht habe. Unser Gespür ist umfassender und weitsichtiger als der Verstand. Die Dokumentation ist für das Nachvollziehen des Hintergrunds relevant, jedoch nicht für das eigentliche Empfinden. Wenn es nur nach dem Empfinden geht, sollte es keine Dokumentation geben. Doch wie kann ich Menschen, die weiter weg sind (z.B. in London, Zürich oder Hongkong), erreichen und von meiner Kunst berichten? Da ist die Dokumentation ein guter Kompromiss.

CK: Betrachtest du deine einzelnen Aktionen oder auch Objekte und Installationen als in sich abgeschlossen? Augenscheinlich verbindet sie ein innerer Zusammenhang, doch aber wird auch ein Rhythmus spürbar, einzelne Entwicklungen kommen zum Abschluss, andere führen weiter. Wie siehst du selbst die Entwicklung dieser Prozesse?

ML: Genau wie in unserem Leben gibt es auch bei Objekten und Installationen eine Phase, die vor dem eigentlichen Beginn des Entstehens liegt und eine Phase danach. Es sind unsichtbare Enden, die sich um das Schaffen spannen. Je tiefer diese Enden gehen, umso stärker ist das Werk und seine Allgemeingültigkeit in der Zeit. Einige Dinge spüre ich heute schon, die noch gar nicht da sind. Die Kreativität kann mit einem unordentlichen Zimmer verglichen werden. Alles ist am Anfang im Chaos. Dann greifst du einen Gegenstand, um ihn woanders hinzulegen und ein zweiter Gegenstand kommt dazu. Mit der Zeit ordnen sich die Dinge selbst und du testest, wie sie zueinander liegen. Mit den Projekten und der Zeit wachse ich selbst mit. Daher gibt es keine wirklichen Abschlüsse, sondern nur Übergänge und "Zwischenprodukte". Diese Tatsache sollte uns Mut geben überhaupt anzufangen. Das Entstehen einer Idee, das Ausweiten der unsichtbaren Enden, sollte auch auf das Entstehen von Werten und auf unser Verhalten mit Geld übertragen werden. Wieso zum Beispiel geben wir Menschen, die wir nicht mögen, Geld? Geld ist eine Erfindung des Menschen, und wir sollten diesem Objekt auch wieder menschliche Züge geben. Wenn wir das Geld mit den Menschen, die hinter den Produkten und Dienstleistungen stehen, verbinden, funktioniert es. Ohne eigenen Charakter dieses Werkzeuges Geld verlieren wir Menschen selbst unseren Charakter. Der Geldkreislauf kann wieder verlangsamt werden, indem wir hinterfragen. Dann kommt Zeit in die Produktivität und somit auch in die Qualität. Die Prozesse Geldverdienen und Geldausgeben bekämen dann wieder weit tragende, unsichtbare Enden in Vergangenheit und Zukunft.

CK: Für dein künstlerisches Projekt ist es unerlässlich, in die Öffentlichkeit zu treten. Deine Aktionen erfordern ein Publikum, das sich in den Dialog einbeziehen lässt und die von dir geschaffenen Modellsituationen aufnimmt. Wie liegen da die Perspektiven deiner künstlerischen Arbeit? Wird es dir gelingen, immer wieder Öffentlichkeit zu finden und diese produktiv anzuregen? Sicherlich ist der Kreis aktuell noch eher begrenzt. Wie kannst du Wege finden, diesen Diskussionsund Reaktionsraum auszuweiten und damit die Wirksamkeit deiner Arbeit zu vertiefen?

ML: Entweder du arbeitest für dich oder du teilst anderen mit, was du machst. Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder Mensch sich mit seinen Fähigkeiten einbringen sollte (nicht zu verwechseln mit der Fähigkeit Geld zu generieren!). Ich habe festgestellt, dass dies bei mir die Beschäftigung, wie ich Menschen zum Nachdenken und -fühlen bewege, sein kann. Durch meine Aktionen integriere ich die Gesellschaft, und von den Zuschauern bekomme ich immer wieder Anregungen und Vorschläge, wie und was ich verbessern könnte. Das ist wunderbar. Keiner sagt dir: "Mach schlechte Sachen." Wieso gibt es dann davon so viel? Durch den Austausch mit den Zuschauern werde ich auf Dinge aufmerksam, die ich ohne die Aktion nicht erfahren hätte. Für mich gehen viele Anregungen jedoch nicht weit genug. Ich sammle diese Eindrücke und verarbeite sie. Ein Künstler spürt das vorhandene Potential und vertraut darauf, es zu finden. Die Gesellschaft ist jedoch unsicher und greift lieber auf Dinge, die sie sieht und begreifen kann, zurück. Man wird erst, wenn man einem wirklichen Künstler gegenüber steht, feststellen, dass man sich die gesamte Zeit mit wenig begnügt hat.

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