Christoph Kivelitz

Ouyang Chun. Spiegelscherben des Selbst

in: Ouyang Chun, Paintings 2007-2009. Katalog zur Ausstellung in der Galerie Frank Schlag, Essen, 30.10. - 27.11.2009.
Hrsg.: Galerie Frank Schlag & Cie., Essen.  Text: Dr. Christoph Kivelitz. 32 Seiten

Ein Kosmos flirrender Sterne auf Samt, davor, klein, zerbrechlich, verloren, aber frei und ungebunden eine kleine Engelsgestalt, in gelber Farbe gleichsam lichthaft leuchtend, in einem Nirgendwo von Zeit und Raum, Lichtjahre von den Zwecken und Zwängen des Alltagslebens entfernt. So ein Selbstbild des Malers Ouyang Chun. Die Proportionen der angesichts der Weite und gedachten Endlosigkeit der Sternengalaxien winzig anmutenden Gestalt entsprechen in keiner Weise dem akademischen Kanon, ist die Wiedergabe des Körpers doch reduziert auf zwei im Winkel aneinander stoßende Balkenformen, die allein durch Kopf, Hände und Füße figurativ auszudeuten sind. Dazu die Engelsflügel, die eigentlich viel zu filigran anmuten, doch die Gestalt ungefähr im Zentrum des Hochformats im Schwebezustand zu halten vermögen.

Die mit dem Pinsel erhobene Rechte sowie die in der steif abgewinkelten Linken gehaltene Farbpalette verweisen auf die Tätigkeit des Malens, damit auf den eigentlichen Ursprung dieser ganz offensichtlich selbst aus Farbe heraus geschaffenen Figur. Auch ihr Umfeld, das in seiner Regelmäßigkeit ornamental anmutende Sternengeflirre scheint sich dem Wirken des Malers zu verdanken. Zur Darstellung kommt hier also gewissermaßen eine Art Schöpfungsakt, aus dem heraus der Maler sich und seine Wirklichkeit selbst erschaffen hat. Es ist nicht ein realer Moment, der hier anschaulich wird, sondern eine Art Traumgesicht, eine Vision von Freiheit und kreativer Energie, in dem der Künstler für sich einen unendlichen Möglichkeitshorizont eröffnet.

Die Malerei von Ouyang Chun stellt sich in ihrem prononcierten Primitivismus ganz bewusst gegen den akademischen Kanon, so wie er von offizieller Seite auch im heutigen China noch gepflegt wird. Der Künstler hat sich die Malweise von Kindern angeeignet, um so auch eine andere, noch ungebrochene, unvoreingenommene Zugangsweise zur Wirklichkeit zu finden. Er zeigt die Gestalten – frontal oder auch im Profil – wie Schattenfiguren in die Fläche gebannt, mit übergroßen Köpfen und linkisch abgewinkelten Beinen und Armen. Ihr räumliches Umfeld gehört einer anderen Ebene an. Wie ein Spielfeld ist dieses in die Fläche gefaltet, so dass die Bildfiguren von ihr abzugleiten drohen, wie schwebend vor ihr angebracht. Dabei zeigt Ouyang Chun sich immer wieder selbst, in seiner Rolle als Maler durch die Attribute von Pinsel und Palette als solcher zu erkennen, doch in wechselnden Situationen und Konstellationen. Der Engelsfigur steht etwa der "Madman" gegenüber, ganz monochrom in einem Ockerrot vor türkisfarbener Fläche wie aufgehängt erscheinend. Gemeinsam mit den seine Tätigkeit bestimmenden Gegenständen bildet die Gestalt eine Dreiecksform, die durch vertikale Strichkürzel einen Abwärtssog entfaltet. Der Maler scheint sich in extremer Anspannung dieser Bewegung entgegen zu stemmen, sich diesem Drang, aus dem Bild herauszufallen, zu widersetzen, um vielleicht visionär einen Ausweg aus dem Nichts und Nirgendwo heraus zu finden. Es ist ein Bild der Verzweiflung, doch auch des Mutes und der Hoffnung, eine weitere Facette des Künstlers, der sich mal als "Madman", mal als lichte "Engelsgestalt" darzustellen vermag. Wieder anders tritt er in Erscheinung im Bild "Bear". Hier hat Ouyang Chun sich wie träumend in einen Schutzraum zurückgezogen, in eine Art Höhle, einem mächtigen Baumstamm eingeschnitten. Der Palette ist gleichsam spiegelbildlich sein Gesicht gegenüber gestellt. Der Körper fügt sich in sanfter Schwingung in die Ovalform dieser Baumhöhle ein, augengleich dem Betrachter zugewandt. Die seitlich ausgespreizten Äste des Baumes schirmen diesen Ort der Geborgenheit und Ruhe fast wehrhaft nach Außen ab. Nicht überbordende Energie oder eine dem Irdischen Abgewandte Heilsvision sind hier zur Darstellung gebracht, vielmehr die sich dem eigenen Scha ffen verdankende Perspektive, sich selbst abzugrenzen und dem Leben und Treiben des Irdischen in Meditation zu entrücken.

Das Selbstbild des Künstlers entfächert sich dann in mannigfaltige Facetten in der Bildkomposition des "Productive Painter". Als Rückenfigur besetzt der Maler abermals das Zentrum der Komposition. Die wirr in alle Richtungen wuchernden Haare nehmen den Topos des "Madman" auf. Die Arme scheinen sich hier – einer futuristischen Darstellung von Bewegung vergleichbar – zu vervielfältigen, um sternengleich vom Künstler ausgehend in den Raum zu strahlen. Zeichenhaft sind der weißen Fläche des Bildgrundes teilweise hieroglyphisch anmutende Realitätspartikel eingebracht. Der dem Maler attributiv beigegebene Pinsel verknüpft diese mit dem künstlerischen Schaffensprozess. Die den Künstler umschwirrenden Chiffren umspielen in ihrer Vielfalt die unterschiedlichsten Ebenen zwischen Realität und Abstraktion, von der geschwungenen Linie bis hin zum Regenbogen, von Andeutungen einer Hausfassade bis hin zu einem Automobil. Es ist eine Art Verortung, die der Künstler hier vornimmt, indem er seinen persönlichen Kosmos umkreist, ihn sich anverwandelt, ordnet und strukturiert. Die horizontalen Streifen seines Pullovers sowie die schwarzen Balken, die das Bild seitlich begrenzen, setzen einen Ruhepunkt in dieser über die Ränder des Bildes drängenden Schaffenskraft. Ouyang Chun findet mit dem Motiv des "Productive Painter" eine Formel für die ihn von allen Seiten, aus Innen- und Außenwelten bedrängenden Bilderfluten. Dem Betrachter und der Außenwelt mit dem Rücken zugewandt, scheint er diese doch in sich aufzunehmen, um sie gleichsam wie eine vielarmige Maschinerie zu verarbeiten und in die Realität des Bildes zu überführen.

Es mag sich hier durchaus auch eine kritische Stimme erheben, ist die Kunstszene Chinas doch aufgrund der starken ökonomischen Verflechtungen und der westlichen Ausrichtung des Marktes stark geprägt durch Kopisten und Plagiate, die alle möglichen Impulse und Einflüsse eklektizistisch aufnehmen und in Massen zum Verkauf produzieren. Den schematisierten und kaum durch einen individuellen Stil geprägten Bildern konfrontiert Ouyang Chun seine in ihrem Primitivismus authentisch und unmittelbar anmutende Bildsprache, die bewusst gerade auch das Unschöne, Verdrängte, rational nicht Entschlüsselbare sichtbar werden lässt. Dabei gestalten die Motive sich aus dem Prozess des Malens heraus. Die aus der pastos aufgetragenen Farbe entstehende Faktur der Oberfläche birgt Strukturen in sich, die durch Einritzungen und Schabungen, Prägungen und weitere Farbsetzungen inhaltlich-gegenständliche Assoziationen herbeiführen können. Im stakkatohaften Rhythmus aufwachsende Balken mutieren etwa durch mehr oder weniger regelmäßig aufgebrachte Punktierungen und Liniengeflechte zur "Desire City", während ein Allover bläulicher Farbklekse sich plötzlich als strudelnder Tanz winziger Engelsfiguren lesen lässt. Ein schwarz-weißes Karomuster lässt das Umfeld eines öffentlichen WC assoziieren, in dem eine einer Mangafigur ähnliche Frauengestalt durch in Schlange stehende Männer eine Vergewaltigung erfährt.

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link Website von Ouyang Chun bei der ShanghART Gallery