Anne Wenzel hat die Galerie des Bochumer Kulturrats einem einschneidenden Wandel unterzogen. Imaginär umfasst uns ein Fichtenwald, um mit Dürrenmatt zu sprechen "echte deutsche Wurzelwildnis", in deren Schlagschatten wir uns erst zurecht finden müssen. Schon Elias Canetti hat nachgewiesen, dass der Wald gerade für die Deutschen von besonderer Symbolik ist. Um diesem selbst das Wort zu geben:
In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrecht stehenden Bäume, ihre Dichte und Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. […] Die Standhaftigkeit des Baumes hat viel von derselben Tugend des Kriegers. […] Heer und Wald waren für den Deutschen, ohne dass er sich darüber im klaren war, zusammengewachsen. Er fürchtete sich da nicht, er fühlte sich beschützt. Das Schroffe und Gerade der Bäume nahm er sich selber zur Regel.
Bereits dieses Zitat zeigt mögliche Bezüge auf, denen wir zunächst in der Betrachtung auf den Grund gehen müssen. Anne Wenzel und Eric Jan van de Geer, beide ansässig in Rotterdam, versetzen uns in eine Welt, montiert aus ganz gewöhnlichen Dingen, Figuren und Situationen, die uns doch gerade in ihrer Gewöhnlichkeit befremdlich, gar verstörend oder unheimlich entgegen treten. Beide arbeiten in unterschiedlichen Medien und nehmen auch ganz verschiedene Blickwinkel ein. Anne Wenzel zeigt Keramikskulpturen und eine Wandmalerei, Eric Jan van de Geer Foto-Grafische Arbeiten. Beiden geht es um private Räume und Vorstellungen, die intime Bereiche des Menschlichen berühren, die Aura des ganz Persönlichen durchbrechend. Die weitere Auseinandersetzung zeigt jedoch, dass die Nähe, die hier suggeriert wird, sich unserem Zugriff entzieht. Es wird ein Begehren geweckt, Vertrautes und Bekanntes, auch Geborgenheit wieder zu finden.
Das Schaffen von Anne Wenzel kreist um Motive, die uns in ihrer Süßlichkeit zunächst in die heile Welt des Biedermeier und die verklärten Stimmungsbilder der Romantik verpflanzen. Es ist ein Kosmos, der bis heute auf Kaufhausbildern, in Groschenromanen oder auch in Heimatfilmen und Fortsetzungsserien à la "Schwarzwaldklinik" fortlebt. Nicht zuletzt in den 1950er Jahren war es Bildern der Unschuld, kindlicher Keuschheit und Einfachheit anheim gestellt, sei es im privaten oder öffentlichen Raum, Kriegszerstörungen und Ängste vor dem Neuanfang zu überstrahlen. Ihre Themen sammelt die Künstlerin in historischen Büchern, auf Postkarten und im Fundus trivialer Bilder, die auch heute noch im kleinbürgerlichen Wohnzimmerinterieur Kunstsinnigkeit und Traditionsbewusstsein "deutscher Art" bekunden. Anne Wenzel begibt sich auf Neben- und Seitenpfade der künstlerischen Entwicklung, um abseits des Mainstreams westlich-moderner Kunst ein volkstümlich bestimmtes Bildgedächtnis zu ergründen.
In ihren Skulpturen zielt Anne Wenzel auf eine figürliche Erscheinung, die der Betrachter bei der ersten Begegnung auf ein Realitätsvorbild beziehen mag. Haltungen, Blickwinkel oder auch Attribute verraten jedoch allmählich, dass hier keine wirkliche, dem Leben entnommene Figur zur Wiedergabe kommt, sondern ein Vorstellungsbild, in dem eine Gefühlslage, Erinnerungen, Sehnsüchte oder kanonische Werte gefroren sind. Das Zentrum des Raumes beherrscht, ungefähr in Lebensgröße, eine in Keramik gebrannte, durch Engobe mit einer dunklen Patina überzogene Mädchenfigur. Anatomie, Proportionen und die Ausbildung aller körperlichen Details bis hin zur Kleidung festigen den Eindruck einer naturalistischen Darstellung. Mit leicht gesenktem Haupt scheint das Mädchen schüchtern, abwartend und passiv sich in sich selbst zu verschließen, um den Beschützerinstinkt, damit ein dominantes Betrachterverhalten einzufordern. Doch ein tiefer Einschnitt reißt die Figur an der Frontseite auf, bricht ihre Ruhestellung auf und lässt den Blick fast brutal in das Innere der Gestalt eindringen. Eine weitergehende Störung erwirken Formpartikel, die im Bereich der linken Schulter, der Schleife des aufgebauschten Röckchens oder zu Füßen des Mädchens wie Geschwülste auswuchern.
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Die Foto-Grafischen Arbeiten von Eric Jan van de Geer zeigen keine Gegenstände, sondern die Räume zwischen eben diesen. Die Ausgangsbilder werden vielfach zerlegt und in Schichtungen neu zusammen gefügt, um im Prozess von Analyse und Montage eine eigentümliche Verfremdung zu erfahren. Eric Jan van de Geer geht von ganz einfachen, fast banalen Fotografien aus. Fehler, Undeutlichkeiten und Unschärfe- bis Schärfe-Relationen werden in den Verlauf der Arbeit einbezogen und bestimmen deren Richtung. Gerade in Unklarheiten und Undeutlichkeiten findet er Ansatzpunkte, das Bild weiter auszuformulieren und auf andere Ebenen der Wahrnehmung zu bringen. In keinem seiner Werke finden wir menschliche Figuren, meist Dinge, oft ausschnitthaft wiedergegeben, die uns über ihre Relationen und im Bezug auf Leerstellen Raum in aller Vieldimensionalität und Un-Er-Messlichkeit zur Anschauung bringen. Eben die Bereiche zwischen dem Wahrnehmbaren, Gegenstände in ungewohnten, schrägen, umkippenden Blickwinkeln erfasst, stellen Bekanntes und Vertrautes als neu und unfassbar dar. Die Funktion der Fotografie erfüllt sich hier nicht im Abbild von Wirklichkeit, eher als Medium der Verschlüsselung, geht es doch gerade darum, Bruch- und Schnittstellen von Schein und Sein zu vergegenwärtigen.
Die Arbeit von Eric Jan van de Geer entwickelt sich in einem langwierigen, teils handwerklichen, teils am Computer vorangetriebenen Prozess. Die eingescannten Fotografien werden gerastert und damit einer ersten Analyse unterzogen. Der Künstler nimmt das Besondere eines Motivs und seiner Wiedergabe auf, um Proportionen und Texturen heraus zu bringen und auf Folien zu reproduzieren. Die entstehenden Folien werden auf einem Overhead-Projektor bewegt, bis eine dem Künstler passend erscheinende Konstellation entsteht, die dann als Serigraphie eine auch farbliche Fixierung erfährt. Rasterstrukturen unterschiedlicher Ausdehnung, Dichte und Farbigkeit schaffen in der Überlagerung einen Raum unterschiedlicher Tiefenerstreckung, von völliger Flächigkeit und Abstraktheit bis hin zu illusionistischer, malerisch anmutender Weite. Die Mischung der Ebenen und Farben ergibt wechselnde Schattierungen und Nuancen. Die in der Fotografie vermittelte Illusion von Raum ist in den Folien zunächst aufgehoben, wird dann jedoch in deren Verbindung und Überlagerung mit veränderten Gewichtungen und Akzenten neu hervorgebracht. Neben Rasterstrukturen sind es mehr oder weniger regelmäßige Linienverläufe und Flächenfragmente, die in unterschiedlicher Faktur und Textur verbunden, verschmolzen bzw. gegeneinander gebracht werden und hierbei den Bildern teilweise auch eine haptische, damit weitere sinnliche Qualität verleihen.
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