Christoph Kivelitz

Wei Jia: Pforten in eine Gegenwelt

Vorwort im Katalog: Wei Jia, Doors to an Alternative World, Hrsg. Galerie Frank Schlag & Cie., Essen 2009.

Wei Jia versetzt den Betrachter in einen Zustand zwischen Wachsein und Schlaf, in einen Schwellenraum zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen. Erschaut, ertastet, erfühlt werden Momente des Übergangs aus einer Welt des Vertrauten und Bekannten in eine mehrschichtig gebaute Wirklichkeit. Schleier, Fenster oder magische Pforten öffnen sich zu einer körperlich unerreichbaren Gegenwelt. Gestalt gewinnt dieser Kosmos aus einer lavierenden, der Tradition des Informell nahe stehenden Farbmalerei, wobei der Künstler Nuancen von Blau und Grün mit solchen von Rot und Gelb spannungsvoll verschränkt. Aus ineinander verlaufenden Farbbewegungen, Schattierungen und Helligkeitsstufen formt Wei Jia einen diffusen Bildgrund, der eine Ahnung landschaftlicher Weite ahnbar werden lässt, ohne damit eine auch nur ansatzweise perspektivisch gegliederte Räumlichkeit zu erschließen. Der Bildoberfläche reliefhaft eincollagierte plastische Elemente wirken dem Tiefensog des Bildes antagonistisch entgegen. Der Künstler befördert Illusionen, die durch permanente Metamorphosen irritiert, zum Teil auch wieder dekonstruiert und ausgelöscht werden. Eine Farbstruktur, die das üppig wuchernde Dickicht eines Waldes assoziieren lässt, mutiert so etwa zur Tapetenwand, der eine sich nur einen Spalt weit öffnende Tür eingebracht ist. Thema des Bildes ist so nicht der aus Farbe und Form sichtbar werdende Landschaftsraum, sondern eben das Unsichtbare, Ungreifbare, das jenseits aller Vorstellbarkeit und Begrifflichkeit hinter dieser Pforte sich verbergen mag. In einem weiteren Bild wird die vorderste Farbebene durch eine Rückenfigur wie ein Schleier zur Seite gezogen, um – das Fenstermotiv der Romantik assoziativ berührend – eine rot aufglühende Landschaft und eine darein gebettete Gestalt sichtbar werden zu lassen. Bisweilen ist die nebulöse Farbstruktur auch durch eine spot-artige Lichtinszenierung wie auf ein Bühnenbild aufgebrochen. Thema bleibt in all diesen Fällen die Erfahrung eines Gegensatzes zwischen dem Hier und Jetzt und einer gedanklich projizierten, gespenstisch verkapselten Spiegelwelt, die offenbar im Land der Träume und Visionen anzusiedeln ist. Protagonisten der Bilder von Wei Jia sind kindlich oder jungenhaft wirkende Figurendarstellungen, denen ein ernster, wenn nicht gar melancholischer Ausdruck gegeben ist. Sie scheinen erschöpft und lethargisch zu sein, sind vielleicht aber doch eher meditativ entrückt. Teile des Bildes sind ihnen wie eine Art Traumgesicht zugeordnet, um so unterschiedliche Bewusstseinsebenen in komplexen Bildordnungen zu verschränken. Die Gestalten sind kaum physisch präsent, silhouettenhaft wie aus einzelnen Farbflächen montiert, so dass sie unvermittelt dem aus Farbe und Licht generierten Umraum entgegenstehen. Wie in Hypnose verfallen, erscheinen die Figuren erstarrt, ohne auf- oder miteinander zu reagieren. Jede narrative Komponente ist weitestgehend zurückgenommen, in einem Raum und Zeit enthobenen Moment des Stillstands eingefroren. So lassen sich einzelne, denkmalhaft auf Sockeln posierende Figuren als Symbolgestalten verstehen, als Allegorien oder Sinnbilder, die jedoch keine festgesetzte Bedeutung in sich verkörpern, diese vielmehr als Chimäre, ephemer und unfassbar als möglichen Horizont aufblitzen lassen. Immer wieder begegnen uns verhüllte, abgewandte, verblassende Kindwesen, in denen sich Sehnsuchtsmomente inkarnieren und gleichzeitig die Unmöglichkeit, Wünsche und Hoffnungen zu erfüllen, schmerzhaft spürbar wird.

Die übergroßen Augen der Bildfiguren akzentuieren deren Wahrnehmung, das Erblicken und Erschauen einer mehrdimensional gefassten, in sich brüchigen Wirklichkeit. Als Rückenfigur dem Betrachter entgegengestellt, wird auch dieser auf sein Sehen, die hierdurch hervorgerufenen Empfindungen zurückverwiesen. Das Kind erscheint als Alter Ego des Künstlers, gerät aber gleichermaßen zur Projektionsfigur für den sich einfühlenden Rezipienten. Durch Blicke, Haltungen und Gesten weist es den Weg aus dem von Zwecken und Notwendigkeiten gesteuerten Alltagsleben in eine Art Schatten- oder Spiegelwelt, die in ganz persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen Halt und Struktur gewinnt.

Grundthema der Bilder von Wei Jia ist die Verlorenheit und Einsamkeit des Menschen in der modernen Gesellschaft, die allerdings jedem zeit-räumlichen Bezug enthoben ist. Die Gestalten taumeln oder schweben wie auf einer ziellosen Reise einer Fata Morgana entgegen. Der unwirklich anmutende Raum verflüchtigt sich zu einem substantiell nicht mehr greifbaren Kontinuum, in dem sich Gedanken und Gefühle, Erwägungen und Sehnsüchte in Farbstimmungen materialisieren. Hieraus erklärt sich die melancholisch-lyrisch gefärbte Atmosphäre der Bilder, in denen sich Einflüsse der Romantik und des Symbolismus mit der fernöstlichen Bilderzählung und zeitgenössischen Comics zu einer ganz eigenständigen, stilistisch nicht zu fixierenden Bildästhetik verbinden.

Neben dem Bild des Kindes, des Aufbruchs aus allen rationalen und funktionalen Festlegungen, greift der Künstler auch das Thema der Vergänglichkeit, des memento mori auf. Eine mit Flügeln ausgestattete Gestalt hat offenbar bereits die Sphäre irdischer Gebundenheit und Schwere überwunden, um in eine rein spirituelle, dem Körperlichen entrückte Dimension überzugehen. Ein durch Pfeile perforiertes Kindwesen evoziert das Leiden Christi oder das der christlichen Märtyrer und führt so gleichermaßen den Prozess der Läuterung und spirituellen Erneuerung vor Augen. Eine unmittelbare Begegnung mit dem Tod erfolgt in einer dramatisch zugespitzten Bildkomposition aus kreisförmig ineinander verschlungenen Kontrasten von Rot und Schwarz, einem Höllenszenario vergleichbar, dem in einer diagonal aufsteigenden Bewegung eine Kette von Totenschädeln entsteigt. Im Verweis auf das Motiv der Jakobsleiter wird auch hier ein Bild der Verzweiflung und des Niedergangs einem Erlösungsmotiv polarisierend gegenübergestellt.

In einem Brückenschlag zwischen westlicher und fernöstlicher Kunst findet Wei Jia zu einer ganz eigenständigen Symbolsprache, die sich auf dem Wege intuitiven und emotionalen Einfühlens entschlüsseln lässt. Der Künstler übersetzt Motive und Strukturen christlich-abendländischer Kunst in eine naiv-kindlich anmutende Bilderzählung, in der gleichzeitig aber auch die vielschichtigen narrativen Strukturen altchinesischer Kunst aufgehoben sind. Das Bindeglied zwischen diesen beiden Traditionsbezügen ist die Gestalt des Kindes, dessen verspielte Zugangsweise zur Wirklichkeit Wei Jia für sich neu zu ergründen sucht. Wie schon Pablo Picasso im Rekurs auf die sogenannte "primitivistische Kunst" Ozeaniens, so zielt auch er in seiner künstlerischen Programmatik darauf, sich eine kindliche Wahrnehmung neu verstehend sehend zu erschließen. Das oberflächlich Sichtbare auf einen Wesenskern von Wirklichkeit zu durchdringen, dieser Vision mag Wei Jia mit jedem seiner Bilder einen kleinen Schritt näher zu kommen, in einem permanenten Verschieben und Verfließenlassen der Grenzen von Traum und Wirklichkeit, Trug und Wahrheit, Hoffnung und Angst. So hat seine Malerei für uns als Betrachter eine durchaus existentielle Notwendigkeit, als Versprechen, als Offenbarung einer möglichen anderen Wirklichkeit.

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