erschienen zur Einzelausstellung Anne Wenzel - Invalid Icon, Kunstraum NP3, Groningen, 2008
Anne Wenzel bevorzugt ein Material, dessen Bearbeitung außerordentlich aufwendig ist und mehrere sorgfältig ausgeführte Schritte erforderlich macht. Aus Keramikton modelliert sie Figuren, die im Brennofen und durch Engobe eine Veredelung erfahren. Meist sind es Motive, die eher weiblich konnotiert sind, denen eine Anmutung von Zerbrechlichkeit, Unschuld oder Naivität zu Eigen ist: ein junges Mädchen, das einer Märchenerzählung zu entstammen scheint, oder ein Rehkitz, das Empfindungen von Niedlichkeit heraufbeschwört. Doch immer sind diesen Gestalten Wunden und Narben eingezeichnet. An einer Flanke sind sie brutal aufgerissen, scheinen sie zu verfließen, ihre körperhafte Konsistenz einzubüßen und sich in eine amorphe Substanz zu verlieren. Mit dem Verlust der physischen Integrität erfährt auch das jeweilige Clichébild eine Beschädigung. Dies gilt auch für solche Motive, die eher dem Bereich des Männlich-Heroischen zugeordnet werden oder sich als pathetische Gesten der Macht und Autorität deuten lassen: Ein Hirsch mit stolzem Geweih ist hässlich ausgeweidet, danieder geworfen und in seiner Würde verletzt. Die mit Fahnen und Herrschaftszeichen bestückte Ruhmeshalle ist von eigentümlichen Wucherungen befallen. Die Zeichen von Verwesung tragende florale Ornamentik scheint sich in eine parasitenähnliche Lebensform transformiert zu haben. In einem subversiven Gestus kehrt sich das Sinnbild für Sieg und Triumph zur Weihestätte von Niedergang und Zersetzung.
Bei der Ikone handelt es sich um eine Bildform, die im Kontext religiöser Andacht ihre Bedeutung findet. Sie versteht sich nicht einfach als Abbild oder Darstellung einer zu verehrenden Gestalt, vielmehr als deren Abdruck oder Widerschein. In der Anschauung der Ikone vollzieht sich eine unmittelbare Begegnung, eine Form von Kommunion, in der Bild und Betrachter in einer mystischen Andacht ineinander verschmelzen. In Anknüpfung an diese Bildkonzeption hat Joseph Beuys seinen gleichsam therapeutischen Gestaltungsansatz entwickelt. Seine künstlerische Theorie basiert auf der Polarität unterschiedlicher Energiezustände, verfestigter und offener, amorpher Strukturen. Beuys inszeniert Modellsituationen, die gedanklich Veränderungsprozesse in Gang setzen sollen. Ein verfestigter Block aus Wachs oder ein stillgestellter technischer Apparat figurieren als Energiekondensatoren, die bei gedanklich oder realiter vollzogener Inbetriebnahme auf ihr Umfeld ausstrahlen. Durch Abgabe von "Wärme" werden erstarrte Denkweisen und Verhaltensmuster aufgebrochen und damit der Möglichkeit einer grundsätzlichen Erneuerung zugeführt. Mit seinem Impetus als Heiland und Erretter lässt Beuys eine gleichsam religiös motivierte Künstlertypologie aufleben. Gerade diese Verschränkung der Aufklärungsrhetorik mit einem vormodernen Sendungsbewusstsein ist Ausdruck der Doppelgesichtigkeit der Kunst des 20. Jahrhunderts.
Anne Wenzel reflektiert in ihrer künstlerischen Arbeit eben diese Ambivalenzen. Durch die Fensterfront des Ausstellungsraumes bloß schemenhaft sichtbar, richtet sie in diesem eine dreiteilige, kultisch anmutende Inszenierung ein. Auf abgestuften, mit Blumenranken geschmückten Sockeln ragt jeweils eine weibliche Gestalt auf, deren Ausdruck sich im Sinne der christlichen Ikonographie deuten lässt: Haltungen der Demut und der Verzückung steht mit einem Totenskelett ein memento mori zur Seite. Die die Figuren umfließenden Haare und Kleidungsstücke konterkarieren das Pathos der Inszenierung, indem sie einen unaufhaltbaren Auflösungsprozess zur Anschauung bringen und der Kultstätte eine Aura krankhafter Morbidität verleihen. Anne Wenzel zitiert auch in diesem Fall eine Symbolik, die – auf verschiedenen Ebenen – mit den Phänomenen von Chauvinismus oder auch heimatlicher Rührseligkeit verwoben sind. Das auf nationalistische Selbstdarstellung und quasi-religiöse Überhöhung zielende Zeichenrepertoire wird in der übersteigerten Inszenierung ad absurdum geführt und durch die geschilderten Auflösungsprozesse radikal verzeichnet. Anne Wenzel rekurriert auf ein traditionelles Symbolrepertoire, dem sie über durch Übersteigerung und Dekonstruktion neue Gestaltungsmöglichkeiten abgewinnt. Andererseits zieht die barocke Sinnesfülle den Betrachter in den Bann erschließt ihm einen völlig offenen inhaltlichen Bezugsrahmen – von Bildwelten des Comic und des Fantasyfilms bis hin zu Aberglauben, Fetischismus und Totenkult. Pop- und Underground-Kultur durchringen wie eine Chimäre die zunächst bürgerlich anmutenden Fassade des Ausstellungsgebäudes. Hiermit formuliert Anne Wenzel in prägnanter Form ein Sinnbild für die moderne Gesellschaft, die gerade in der paradoxen Gleichzeitigkeit rationaler Ansprüche und irrationaler Triebkräfte ihre globalen Ansprüche formuliert.
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